Narrative zur Selbstdarstellung: Perfides Bullshit-Dreieck
Politiker:innen wie Wagenknecht und Trump definieren Menschen als Opfer von schlechter Politik. Um sich selbst als Retter:innen darzustellen.
K ürzlich sah ich ein Bild, auf dem das Profil der Politikerin Sahra Wagenknecht neben einer Büste der ägyptischen Königin Nofretete zu sehen war. Die „stoische Ruhe“ Wagenknechts, so hieß es im begleitenden Zeit-Artikel, erinnere schon immer an Nofretete, die mächtige Herrscherin im alten Ägypten. Als ich dieses Bild sah, dachte ich: Der Archetyp des Retters ist so mächtig, dass er nun schon auf eine eher mittelmäßige Politikerin wie Sahra Wagenknecht projiziert wird. Deutschland sucht die Retterin.
Die Figur einer rettenden Person findet sich überall wieder, in persönlichen Beziehungen, im Büro, in Partnerschaften – und ganz besonders in der Politik. Diese Figur existiert aber nie allein. Sie ist untrennbar mit zwei weiteren Figuren verbunden: dem Opfer und dem Bully. Einfach gesagt: Das Opfer braucht den Retter, der Bully ist der Böse. Eine allgegenwärtige Dreieckskonstellation. Das Dreieck, das beispielsweise von Sahra Wagenknecht bedient wird, sieht so aus: Das Opfer sind „die“ Menschen in Deutschland, der Bully sind Politiker:innen aller anderen Parteien, an allererster Stelle die Grünen.
So sagte Wagenknecht Anfang September in einem Spiegel-Gespräch, dass die Grünen gefährlicher seien als die AfD, „weil sie im Unterschied zur AfD regieren und natürlich in den letzten Jahren auch in vielerlei Hinsicht Weichen gestellt haben“. Und weiter: „Das, was die Grünen an Klima- und Umweltpolitik verkörpern, das empfinden sie [die Wähler, die Red.] als undurchdacht, verlogen und nicht in sich konsistent.“ Opfer: die Wähler. Bully: die Grünen. Ergo ist die Retterin: sie selbst.
Eine zentrale Sache zum Opfer-Bully-Retter-Dreieck: Es ist ein Bullshit-Dreieck. Es ist nicht echt. Es hat mit der Realität nichts zu tun. Denn wer Opfer, wer Bully und wer Retter ist, hängt immer davon ab, wen man fragt. Fragt man einen Grünen-Anhänger, würde der wahrscheinlich sagen: Opfer, das sind die Grünen. Bully: Sahra Wagenknecht. Retter: möglicherweise die Wähler. Eine Grünen-Politikerin würde vielleicht sagen: Opfer: die Wähler. Bully: Sahra Wagenknecht. Retter: die Grünen. Alles Bullshit. Alles nicht echt. Weil alles real ist, ist nichts real. Das Bullshit-Dreieck ist aber leider sehr wirkmächtig.
Allmacht des Opfernarrativs
Das liegt auch daran, dass der Archetyp des Opfers sehr verlockend und damit sehr stark ist. Er klebt an der menschlichen Psyche wie Kaugummi an Haaren. Es braucht viel Bewusstsein und Arbeit am Selbst, um es loszuwerden. Als Opfer kann man allen anderen die Schuld geben. Die Ampel ist schuld, die AfD ist schuld, Olaf Scholz ist schuld, die Grünen sind schuld. Man selbst leidet, weil andere dumm/gemein/inkompetent sind. Donald Trump ist in der politischen Welt wohl eines der anschaulichsten Beispiele für die Allmacht des Opfernarrativs. Joe Biden spaltet, Kamala Harris zerstört das Land, Richter:innen, die ihn verurteilen, sind „dumm“, „gefährlich“, „Marionetten“. Donald Trump ist alles gleichzeitig, Opfer, Retter und Bully – je nachdem, wen man fragt.
Nach dem TV-Duell mit seiner Konkurrentin Kamala Harris Anfang September – bei dem Trump allen Umfragen zufolge weitaus schlechter performte als Harris – schrieb er auf seiner Plattform Truth Social, in der Debatte hätten „drei gegen einen“ gekämpft. Die beiden Moderator:innen hätten also auf der Seite von Harris gestanden. Donald Trump, das Opfer, wie so oft. Es ist, und das zeigt sich an Trump gut, vermeintlich leichter, die Schuld für den eigenen Schmerz auf andere zu projizieren und ihnen die Verantwortung zu geben. Und weil es so verführerisch ist, sich als Opfer zu fühlen und darzustellen, folgen viele Menschen dieser Erzählung.
Sich als Opfer zu fühlen, gibt einem Menschen das Gefühl, im Recht zu sein, alles richtig zu machen, sich nicht zu hinterfragen. Das mag sich gut anfühlen, heißt am Ende allerdings nur, dass man die Macht über das eigene Fühlen, Denken, Handeln an andere abgibt – an die Politik, den Ehepartner, die Chefin. Eben an alle, die schuld daran sind, dass es mir nicht gut geht. Nur man selbst hat überhaupt keine Macht mehr über das eigene Leben. Stärker kann man sich selbst kaum abwerten. Und eines ist garantiert: Man wird nie wachsen, sich verändern, stärker oder gar weiser werden. Sich als Opfer zu fühlen und sich womöglich sogar darin zu suhlen – Stichwort Donald Trump –, ist Ausweis größtmöglicher emotionaler Unreife.
Es gibt keine Lösungen
Dieses allzu schmackhafte Opfernarrativ wird von Politiker:innen wie Sahra Wagenknecht, Donald Trump, Friedrich Merz, Björn Höcke und vielen anderen sehr geschickt ausgenutzt. Sie inszenieren sich als Retter. Björn Höcke und Donald Trump machen das so offensichtlich, dass sie sich sogar mit Jesus oder dem Allmächtigen vergleichen – dem ultimativen Retter sozusagen. Und so wundert es nicht, dass Sahra Wagenknecht das destruktive Opfernarrativ von Menschen füttert.
Politiker:innen konstruieren das Bullshit-Dreieck, weil sie dadurch weniger Arbeit leisten müssen, um Macht zu erlangen. Es ist nicht notwendig, politische Leistungen zu erbringen, um Wählerstimmen zu erhalten. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) kam nur wenige Monate nach seiner Gründung bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen auf Ergebnisse zwischen 11 und 16 Prozent. Dank Bullshit-Dreieck. Ihr armen Opfer, wir retten euch. Den „Retter:innen“ geht es nicht um die Menschen.
Es geht der Person, die sich als Retterin inszeniert, allein um sich – um die eigene Macht, um ihr Selbstbild, darum, gemocht, gesehen, geliebt zu sein. Im Bullshit-Dreieck lassen sich keine Lösungen finden: Es gibt kein Mitgefühl, keine Rationalität und kein Miteinander. Es gibt nur Drama. Menschen, die sich retten lassen wollen, verlieren sich. Sie stellen die Identität des „Retters“ über die eigene Identität, über die eigenen Werte. Es geht nur noch darum, wer der Retter ist. Nicht darum, wer man selbst ist. Sahra Wagenknecht ist keine gute Politikerin. Nur das Bullshit-Dreieck – das beherrscht sie perfekt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren