Naomi Klein: Die neue Bibel ist da

In Toronto stellte Naomi Klein ihr neues Buch "Die Schock-Strategie" vor - und einen verstörenden Kurzfilm über Katastrophenkapitalismus.

Schock-Kapitalismus: Leben wie nach einem Wirbelsturm Bild: dpa

Wahrscheinlich ist es an diesem Abend der einzige Film auf dem Toronto International Film Festival, der keinen Applaus erhält. "This woman is a propagandist", sagt ein wütender Zuschauer zu seiner Sitznachbarin, als der Name Naomi Klein im Abspann erscheint. Man dürfe ihr kein Wort glauben. Dabei ist der Filmtrailer "Die Schock-Strategie - Aufstieg des Katastrophenkapitalismus" nur sechs Minuten lang. Doch der verstörte Zuschauer meint, ein solcher Film dürfe angesichts der brutalen Bilder auf dem Filmfestival gar nicht gezeigt werden.

Ein Tag zuvor: Im MacMillan Theatre auf dem Campus der University of Toronto haben sich einige hundert kanadische Globalisierungskritiker versammelt, um Naomi Klein zu feiern, als würde sie zu einem Siegeszug gegen den Neoliberalismus aufbrechen und nicht bloß auf eine dreimonatige Tournee, um ihr neues Buch vorzustellen. "Ich bin Zeuge einer neuen Bibel", sagt ein 56-jähriger Klein-Fan.

Zwei Premieren innerhalb von 24 Stunden: Einen Tag nach der Weltpremiere des lang erwarteten Buches der 37-jährigen Kanadierin erlebte der gleichnamige Kurzfilm "Die Schock-Strategie - Aufstieg des Katastrophenkapitalismus" am Freitag in Naomi Kleins Heimatstadt Toronto ebenfalls seine Weltpremiere. Während bei der Filmvorführung einige Zuschauer wütend den Saal verließen, wurde Naomi Klein bei der Buchvorstellung gefeiert.

Und in der Tat: Sowohl die Bilder im Film als auch ihre These insgesamt sind aufrüttelnd. Klein zieht Parallelen von schaurigen Foltertechniken bei Psychiatriepatienten in den frühen 50er-Jahren zu dem, was Ökonomen der so genannten "Chicago School" als "Schocktherapie" für Lateinamerika und Osteuropa in den vergangenen Jahrzehnten empfohlen haben: eine Radikalkur, in der von einem Tag auf den anderen ohne Rücksicht auf die Bevölkerung die bisherige Wirtschaftsstruktur komplett umgeworfen und durch den Kapitalismus in seiner wildesten Form ersetzt wird. Den Chefdenker der Chicago Boys, den vor einem Jahr verstorbene Milton Friedman, bezeichnet die 37-jährige Buchautorin als "Monster".

Was zunächst einmal theoretisch klingt, löste Klein zusammen mit dem mexikanischen Filmemacher Alfonso Cuarón ("Y tu mama tambien") folgendermaßen: Sie schnitten Bilder von US-Bomben auf Bagdad, den auf sich gestellten "Katrina"-Opfern in New Orleans und den ebenso hilflosen Menschen in Sri Lanka nach dem Tsunami zusammen. "Während die Menschen von der Katastrophe noch gelähmt sind, werden sie einer ökonomischen Schock-Therapie nach neoliberalen Vorstellungen unterzogen", kommentierte Klein in dem Film die Szenen. Viele öffentliche Schulen in New Orleans hätten seitdem nicht mehr aufgemacht, sämtliche Ölreserven des Irak seien an westliche Konzerne verhökert worden und Schulen und Krankenhäuser des Inselstaats gebe es nur noch als private und damit für den größten Teil der Bevölkerung unerschwingliche Einrichtungen. Als "zügellosen Katastrophenkapitalismus" bezeichnet die kanadische Autorin diese Strategie. Ihre Kernaussage: Folterknechte der Psychiatrien und die Chicago Boys um Friedman sind sich nicht fremd. Die einen wollten mit Elektroschocks die Geisteskranken behandeln, die anderen versetzen ganze Gesellschaften in einen Schockzustand.

Doch anders als im Buch, in dem Klein ausführlich beschreibt, wie Friedmans ökonomische Doktrin des freien Marktes in den letzten dreißig Jahren auf extremer Gewalt und auf Katastrophen beruhte, erscheint im Film immer wieder diese schaurige Szene, wie Psychiatriepatienten brutalen Elektroschocks unterzogen werden.

Sicherlich, in einem wirtschaftsliberalen Land wie Kanada, in dem jegliches Bekenntnis zur Linken einer öffentlich gemachten Sektenmitgliedschaft gleichkommt, teilt ein Großteil der Filmfestzuschauer schon aus Prinzip nicht die Ansichten einer bekennenden linken Journalistin. Verstört von den Bildern wirkten aber auch alle anderen Gesichter, als die Lichter im Saal wieder angingen. Die Schock-Strategie von Naomi Klein schien zumindest auf dem Filmfest aufgegangen zu sein.

Doch nicht nur dort. Im MacMillan Theatre war von Entsetzen zwar keine Spur. Im Gegenteil: Tobender Applaus, als die 37-jährige Autorin nach drei Stunden auf alle nur erdenklichen Fragen vom Afghanistankonflikt bis zum kanadischen Gesundheitssystem immer eine Antwort parat hatte. Drei Monate wird Klein nun in der Welt herumjetten, um für ihr Buch zu werben. Im Gepäck: der sechsminütige Trailer. Sie sei nicht glücklich über den Film, gesteht Klein. Am liebsten würde sie selbst immer aus dem Raum rennen, sobald er gezeigt wird. Ihr Kommentar: "Its too disturbing" - was zeigt: Die Schock-Strategie wirkt. Sogar bei ihr.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.