Nächtliche Ausgangssperre: Doch kein Stubenarrest
Überraschend deutlich hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg die Ausgangssperre der Region Hannover zu Fall gebracht. In Hamburg gilt sie weiter.
Den Ausführungen der Region ließe sich nicht einmal „annäherungsweise entnehmen, in welchem Umfang die von ihr angeführten regelwidrigen nächtlichen Zusammenkünfte im privaten Raum tatsächlich stattfänden“. Nicht nachprüfbare Behauptungen reichten zur Rechtfertigung einer derart einschränkenden und weitreichenden Maßnahme wie einer Ausgangssperre nicht aus, heißt es in der Mitteilung des Gerichts weiter.
Insbesondere sei es nicht zielführend, ein diffuses Infektionsgeschehen ohne Beleg in erster Linie mit fehlender Disziplin der Bevölkerung sowie verbotenen Feiern und Partys im privaten Raum zu erklären. Nach mehr als einem Jahr Pandemiegeschehen bestehe die begründete Erwartung nach weitergehender wissenschaftlicher Durchdringung der Infektionswege.
Die Region Hannover reagierte sofort und kassierte die Verfügung wieder ein. Allerdings hatte sich Regionspräsident Hauke Jagau schon zuvor als kein allzu großer Fan der Maßnahme zu erkennen gegeben. Nun darf man dort also auch nach 22 Uhr wieder auf die Straße, in anderen niedersächsischen Kommunen gilt die Ausgangssperre aber weiter.
Rund 70 Klagen vor dem Verwaltungsgericht
Das hat damit zu tun, dass die Coronaverordnung des Landes zwar den Rahmen für die Ausgangssperren vorgibt – die konkrete Ausgestaltung aber den Kommunen überlässt. Also muss bei jeder einzelnen geguckt werden, ob sie ausreichend begründet ist und Klagen Stand hält.
Als „krachende Niederlage für die Landesregierung“ bezeichnete Helge Limburg, der rechtspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Landtag, die OVG-Entscheidung trotzdem. Die Vorgaben des Landes seien offenbar zu unkonkret, um rechtssicher umgesetzt werden zu können. Die Grünen hatten schon früh für eine rigidere Kontrolle von Arbeitsstätten und umfangreichere Tests statt Ausgangssperren plädiert.
Dass diese Maßnahme auf erheblichen Widerstand stoßen würde, hatte sich in Hannover früh abgezeichnet. Am Donnerstag vor Ostern war die Ausgangssperre in Kraft getreten – am Karfreitag gab das Verwaltungsgericht den ersten vier Eilanträgen dagegen statt. Das galt erst einmal nur für die Kläger*innen, die aber ganz schnell Nachahmer*innen fanden: Direkt nach den Feiertagen war die Anzahl der Verfahren (Eilanträge und Klagen) nach Angaben des Gerichtes auf rund 70 geklettert.
Die Region wollte eine grundsätzliche Klärung herbeiführen und legte gegen die ersten Beschlüsse Beschwerde vor dem OVG Lüneburg ein – das wies die Beschwerde am Dienstagnachmittag zurück, noch am Abend hob die Region die Ausgangssperre auf.
Abendliche Spontandemos im Univiertel
Ausnahmsweise hatte sich aus diesem Anlass in Hannover auch Protest formiert, der nicht dem Coronaleugner-Lager oder einzelnen Interessengruppen zu zuordnen ist. Im Univiertel Nordstadt versammelten sich rund 70 linke Aktivist*innen und Anwohner*innen, um gegen die Ausgangssperre, aber für einen „solidarischen Lockdown“ und ein klügeres Pandemie-Management zu demonstrieren. Auch an den folgenden Abenden riefen sie zu Demonstrationen auf, die zum Teil allerdings deutlich kleiner ausfielen.
In der lokalen Presse sorgte das erst einmal für Irritationen, weil unklar war, ob diese Ansammlung an sich nicht schon illegal war. Später stellte die Polizei klar: Versammlungen dieser Art rechtfertigen eine Ausnahme von der Ausgangssperre, weil sie – ähnlich wie die Teilnahme an nächtlichen Ostergottesdiensten, die ja auch ausdrücklich erlaubt war – auf ein höheres Rechtsgut verweisen.
Interessant wird nun zu beobachten, ob und wie die Rechtsauffassung des OVG Lüneburg Kreise zieht. Bisher gab es nämlich eine ganze Reihe von Urteilen, die in eine ganz andere Richtung zielten. So hatte zum Beispiel die 14. Kammer des Hamburger Verwaltungsgerichts bereits am Karfreitag den Eilantrag einer Familie mit Kind gegen die Ausgangsbeschränkung abgelehnt.
Ohne sie sei „eine wirksame Eindämmung“ des Infektionsgeschehen „erheblich gefährdet“, erklärte das Gericht. Es bestehe also aufgrund der Zuspitzung des Pandemiegeschehens ein „hinreichender Anlass“ für die verfügten Regelungen, heißt es in dem am Dienstag veröffentlichten Beschluss des Gerichts.
Die Ausgangssperre sei den Antragstellern zuzumuten, sie greife zwar „nicht unerheblich in ihre Grundrechte ein“, was aber mit Blick auf die aktuelle Coronalage und die für die Allgemeinheit entstehenden Vorteile als verhältnismäßig anzusehen sei, da „es kein milderes, gleich geeignetes Mittel zur Eindämmung“ gäbe. Der Beschluss kann noch vor dem Oberverwaltungsgericht angefochten werden. Es sind zudem weitere Klagen gegen die Ausgangsbeschränkungen in Hamburg anhängig, über die noch nicht entschieden wurde.
Hamburg verzeichnet kaum Probleme mit der Ausgangssperre
Nach der in Hamburg seit Karfreitag und zunächst bis zum 18. April geltenden Ausgangssperre dürfen die Hamburger*innen ihre Wohnungen zwischen 21 Uhr abends und 5 Uhr morgens nur noch aus triftigem Grund verlassen, die sie im Fall einer Polizeikontrolle glaubhaft nachweisen müssen.
Als triftige Gründe gelten der Weg zur Arbeit, medizinische Notfälle und die Versorgung von Tieren. Auch körperliche Betätigungen wie Spaziergänge, Joggen oder Fahrrad fahren sind erlaubt. Der Einzelhandel schließt wegen dieser Beschränkungen um 21 Uhr, auch der nächtliche öffentliche Nahverkehr wird eingestellt.
Bislang, so teilte die Hamburger Polizei am Mittwoch mit, gebe es nur „wenige Verstöße“ gegen die Ausgangsbeschränkungen. Die Hamburger Straßen sind während der Sperrstunde nahezu menschenleer, zudem kontrollierte die Polizei bislang vor allem beliebte nächtliche Treffpunkte wie den Elbstrand und den Stadtpark, sah aber von Kontrollen einzelner Passant*innen, die in der „verbotenen Zeit“ allein unterwegs waren, ab.
Zu heftigen verbalen oder gar handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Kontrollierten und Kontrolleuren, wie sie die Polizei befürchtet hatte, kam es bis auf ganz wenige Ausnahmen bislang nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett