Nachwahl in Old Bexley and Sidcup: Stimmungstest in London
Boris Johnson durchläuft ein Tief. Nun könnten die Tories in einer Nachwahl auch noch einen Traditionswahlkreis verlieren.
Der Wahlkreis ist konservativ, seit der spätere Premierminister Edward Heath hier 1950 Unterhausabgeordneter wurde. 63 Prozent stimmten 2016 für den Brexit – einer von nur 5 der 32 Londoner Stadtbezirke mit einer Brexit-Mehrheit. Der Wahlkreisabgeordnete damals hieß James Brokenshire, er ist im Oktober mit 53 Jahren an Lungenkrebs gestorben.
Die Nachwahl gilt nun als Test für die regierenden Konservativen, die den Gemeinderat Louie French ins Rennen schicken. Bereits im Juni verloren sie den Wahlkreis Chesham and Amersham nordwestlich von London, seit 70 Jahren in Tory-Hand, an die Liberaldemokraten.
Für viele konservative Stammwähler:innen ist das Boot buchstäblich voll. Nicht nur wegen des Stroms von Schlauchbooten mit Flüchtlingen, die den Ärmelkanal überqueren, sondern auch wegen schlechter Schlagzeilen über Nebenjobs von Abgeordneten und einer Regierung, die massive Staatsausgabenerhöhungen und eine Energiewende plant.
„Stolz auf unsere Nation, Geschichte und Kultur“
Der ehemalige Finanzangestellte John Wiltshire, 70, hat bisher meist konservativ gewählt. Aber eine Partei, die „meinen Gasheizkessel und meinen sparsamen BMW abschaffen will, die will ich nicht mehr wählen“, sagt er. „Die Tories werden von einer metropolitanen Elite geführt und helfen sich zu sehr selber“, behauptet er. Er spricht stolz über seine Wurzeln in der Arbeiterklasse. Aber auch Labour kommt für ihn jetzt nicht infrage.
Auch der 54-jährige Paul Clark will den Tories einen Warnschuss senden. „Boris hat gute Absichten, etwa mit dem Norden, aber er macht keine glaubhafte Politik“, findet er. Er verweist auf die vielen Schlauchboote, die nach England durchkämen. Auch er hält allerdings nichts von Labour-Chef Keir Starmer. „Er wirkt wie ein nasser Waschlappen“, fügt seine Frau an der Haustürschwelle hinzu. „Ich finde, dass die Konservativen eine Partei geworden sind, die alle befriedigen will. Das geht aber nicht. Sie sollten auf die schweigende Mehrheit hören.“
Der Warnschuss soll in Form von Richard Tice kommen. Der 57-jährige Immobilienmogul war einst Mitstreiter von Nigel Farage und Vorsitzender der kurzlebigen Brexit Party, die 2019 die letzten britischen Wahlen zum Europaparlament gewann. Als Farage die Brexit Party abwickelte, gründete Tice die Nachfolgepartei Reform UK.
Für die probiert Tice nun sein Glück in Old Bexley and Sidcup. Seine Methode ist altbewährt. Auf einem offenen Doppeldeckerbus kutschiert er durch den Bezirk und winkt den Leuten zu.
Konkurrenz von rechts macht den Konservativen auch David Kurten, ein 50 Jahre alter ehemaliger Chemielehrer, dessen Vater aus Jamaika stammt. 2016 wurde er für die von Nigel Farage aufgebaute Anti-EU-Partei Ukip (United Kingdom Independence Party) Abgeordneter der Londoner Regionalversammlung, trat danach jedoch gleich zweimal aus der Partei aus, zuletzt aufgrund der islamfeindlichen Haltung der Ukip.
Nun hat er seine eigene Partei gegründet, die Heritage Party. Auf seinen Wahlzetteln wirbt er mit „Stolz auf unsere Nation, Geschichte und Kultur“, er ist gegen Klimaneutralität und für das Ende der „Cancel Culture“.
Nachwahl wird zum Urteil
Im Gespräch mit der taz an einem kleinen Wahlkampfstand neben dem S-Bahnhof Sidcup erklärt Kurten lächelnd: „Viele Leute behaupten, sie wollen uns unterstützen, weil sie genug von Lockdowns und Impfen haben und nicht den Eliteprojekten des Klimawandels einer Gruppe alter korrupter Politiker zustimmen.“ Auch die Gasheizkessel hat Kurten auf seinem Wahlmaterial nicht vergessen. „Save our Cars and our Boilers“, steht da.
Labour, das mit dem Kommunalpolitiker Daniel Francis den Wahlkreis erobern will, wittert bei dem Frust mancher Tories eine Chance. Die lokale Labour-Vorsitzende Donna Briant zieht mit einer kleinen mit Flugblättern bewaffneten Gruppe von Genoss:innen durch Welling, eine ärmere und diversere Gegend. Viele hätten genug von der Art der Tories, nicht für ihre Wähler, sondern für sich selbst zu regieren, meint Briant.
Ihr Enthusiasmus ist unüberhörbar. „Wir hoffen, dass sich nicht nur mehr Leute für uns entscheiden, denn Keir Stamer ist ein wunderbarer Politiker, sondern dass die konservative Stimme von anderen Rechten gespalten wird. Es wird auf alle Fälle eine Botschaft an Johnson sein, vielleicht sogar der Sieg unseres hervorragenden Kandidaten.“
Auf der Straße hört die taz jedoch nur von Leuten, die schon immer Labour wählten, dass sie es weiterhin tun wollen. Neue Ufer scheint die Oppositionskraft noch nicht zu erobern. Im Gegenteil, die taz stößt auf zwei Personen, die lieber Grün wählen wollen: eine Studentin und eine gebürtige Finnin. Diese Nachwahl wird nicht nur ein Urteil über die Konservativen und Boris Johnson, sondern auch über Labour und Keir Starmer.
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