Nachruf auf die "Netzeitung": Der Tod schrieb immer mit
Mit der Netzeitung wird die Hoffnung auf ein Geschäftsmodell beerdigt, das noch nie funktioniert hat: werbefinanzierten Qualitätsjournalismus im Netz gratis anzubieten.
Erstaunlich ist nur, dass das Sterben so lange gedauert hat. Von Anfang an blickte der Tod der ersten und einzigen, ausschließlich im Internet publizierten Tageszeitung Deutschlands über die Schulter. Am Jahresende wird die einst stolze Netzeitung in einen Tickerautomaten verwandelt werden. Das teilte nun Eigentümer DuMont Schauberg mit.
Mit der Netzeitung wird die Hoffnung auf ein Geschäftsmodell beerdigt, das noch nie funktioniert hat: journalistische Qualitätsprodukte im Netz gratis anzubieten und durch Werbung zu finanzieren. Wer kritischen, auf Recherche basierenden Journalismus im Netz machen will, braucht viel Geld - das er anderswo verdienen muss.
Dass dem so ist, wusste vermutlich auch Michael Maier. Er hütete sich allerdings, das laut zu sagen. Der studierte Kirchenmusiker, stets im schwarzen Anzug, gab überzeugend die katholisch-europäische Variante der kalifornischen Hippies, die den Leuten seit den Neunzigern das Netz als großes Versprechen verkauften - bis die Blase platzte.
Als dies im Jahr 2000 geschah, war die Netzeitung als Ablegerin der norwegischen Nettavisen bereits gegründet worden. Diese, 1996 von einigen ehemaligen Maoisten und Wirtschaftsjournalisten konzipierte Onlinezeitung war ein erfolgreiches Projekt. Jetzt wollten die Norweger ganz Europa mit einem Netz unabhängiger Zeitungen überziehen. Deutschland sollte als Brückenkopf dienen. Zu den weiteren Gründungen kam es nie, die Netzeitung kämpfte schon bald um ihre Existenz.
Dass ihr Sterben so lange gedauert hat, ist vor allem dem Charisma, dem Pokerface, den Tricks, aber auch den Visionen von Michael Maier zu verdanken, die er wie kein anderer verkaufen konnte. Maier, der vorher die Berliner Zeitung und für kurze Zeit auch den Stern geleitet hatte, war 2000 als Chefredakteur eingekauft worden. Obwohl er bei der Netzeitung von Anfang an mit weitaus weniger Geld auskommen musste als zuvor, sorgte Maier dafür, dass die Zeitung unter den traurigen Nachrichtenportalen bald als echte Zeitung herausragte. Unter den Verlagshäusern waren alle außer dem Spiegel zu kurzsichtig zu erkennen, dass es darum gehen musste, einen möglichst großen Claim für die eigene Marke im Cyberspace abzustecken.
Es gab Bedarf nach seriösem Journalismus im Netz, und den befriedigte die Netzeitung anfangs vielleicht sogar besser als die damals weitaus boulevardeskere Onlineausgabe des Spiegel. Mit dem "Altpapier" verfügte die Zeitung über ein netzadäquates Format, das sich der Medienberichterstattung widmete. So war der Zeitung die Aufmerksamkeit der Journalistenkollegen gewiss.
Der Nachrichtenredaktion stand Joachim Widmann als hervorragender Blattmacher vor. Maier sorgte außerdem dafür, dass in der Zeitung nicht nur die im Netz übliche Technik- und Societyberichterstattung betrieben wurde, sondern auch seriöser Kulturjournalismus - wenn auch in bescheidenem Ausmaß.
Die Branche nahm das Blatt bald genauso ernst wie die Leser. Sie wurden durch die im Netz übliche Mund-zu-Mund-Propaganda gewonnen, für Werbeaktionen fehlte das Geld. Doch bei jedem der vielen Eigentümerwechsel verschlechterten sich auch die Bedingungen für die redaktionelle Arbeit. Als 2007 die BV Deutsche Zeitungsholding, die zur britischen Mecom Group gehörte, die Zeitung übernahm, war Maier mit seinem Latein am Ende. Die ihm folgenden Chefredakteure gestalteten nur noch den Raubbau an den wenigen verbliebenen redaktionellen Ressourcen. Michael Angele und Matthias Ehlert wurden bald von Domenika Ahlrichs abgelöst, die ihre Karriere am Newsdesk der Zeitung begonnen hatte. Dass nun ein klassischer Verleger wie DuMont der Netzeitung den Todesstoß versetzt hat, ist die traurige Pointe der Geschichte.
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