Nachruf auf Marianne Faithfull: Von den wilden Pferden weggezerrt
Eine wie sie musste die 60 überschreiten, bevor man sie als Künstlerin endlich wirklich ernst nahm. Nun ist Marianne Faithfull 78-jährig verstorben.
„You fucking bastard!“ schleudert die blonde Frau ihrem Ex-Liebhaber entgegen – und brach damit ein Tabu. Denn in der kurzen Szene des 1967 erschienenen Filmdramas „I’ll never forget what’s’isname“ erklang, so will es die Mär, das verbotene Wörtchen „fuck“ zum ersten Mal auf einer britischen Kinoleinwand.
Gerufen hat es eine, die damit auch ihr Leben gemeint haben könnte: Die Sängerin und Schauspielerin Marianne Faithfull, die am 30. Januar im Alter von 78 Jahren in London verstarb, spielte im Film in einer Nebenrolle als „swinging bird“ ein wenig gegen die Misogynie und Verachtung der Zeit an. Sie gab eine von mehreren jungen, dürftig bekleideten Frauen, die dem Protagonisten verfallen sind.
1967 war für die Musikerin und Schauspielerin Faithfull ein wichtiges Jahr. Sie verließ ihren Ehemann, den Künstler und Kunstsammler John Dunbar, mit dem sie 1965 einen Sohn bekommen hatte, für den heißesten Briten der Stunde, den täuschend tolerant wirkenden Superstar und Egomanen Mick Jagger. Faithfull schien die Extreme stets angezogen zu haben.
Als Tochter einer adeligen Nichte von Leopold Sacher-Masoch und eines Literaturprofessors, der auch Offizier in der britischen Armee war, wurde sie 1946 in einen kulturbeflissenen Haushalt geboren, war nach der Scheidung ihrer Eltern allerdings auf ein Stipendium angewiesen.
Sie feierte mit den Beatles und den Stones
Nach Theaterversuchen in der Schule schlug sie mit 18 Jahren als Sängerin in der florierenden „british invasion“ auf, ihren ersten Hit schrieben Jagger und Richards: Ihre Version von „As Tears go by“ passte zu den lieblichen Fotos einer klassischen 60s-Schönheit. Faithfull freundete sich sukzessive mit der Szene an, und übernahm deren Gewohnheiten, unter anderem die Vorliebe für Drogen.
Sie feierte mit den Beatles und exzessiver mit den Stones, dass Polizisten sie bei einer Hausdurchsuchung angeblich nur mit einem Teppich bekleidet vorfanden, wurde von der gierigen britischen Yellow Press weidlich ausgeschlachtet. Faithfulls Drogenkonsum nahm zu, die Filmangebote ab, eine Tochter wurde 1968 tot geboren, sie hatte Abtreibungen, weil sie als „Userin“ um die Gesundheit der Ungeborenen fürchtete.
Ihr künstlerischer Einfluss auf die Stones ist an vielen Songs erkennbar, die über oder für sie geschrieben wurden, die Zeile „Wild horses couldn’t drag me away“ sagte sie angeblich nach einem Krankenhausaufenthalt zu Jagger, für „Sister Morphine“ bekam sie nach einem Rechtsstreit spät Co-Autorinnenrechte zugeschrieben.
Nach der Trennung von Jagger scheiterten ihre Entzugsversuche, das Sorgegerecht für ihren Sohn wurde ihr entzogen, und in den 70ern lebte sie ein paar Jahre lang mittellos und krank auf den Straßen Londons. Erst 1979 schaffte sie ein eindrucksvolles Comeback: Das Album „Broken English“, ihr größter musikalischer Erfolg, präsentierte eine neue Künstlerin, deren Texte mit zarter Poesie verfasst waren, und deren mittlerweile raue, tiefe und gebrochene Stimme die komplexe Vergangenheit wirkungsvoll spiegelte.
Ambivalenz der normativen, weiblichen Attraktivität
Die Hitballade „The Eyes of Lucy Jordan“ setzte sich mit mentaler Gesundheit auseinander – dass Faithfull viel erlebt, erlitten und konsumiert hatte, sprach aus jeder Zeile. In den 80ern probierte sie erneut einen Entzug, einer ihrer Liebhaber, der wie sie unter Sucht- und psychischen Krankheiten litt, brachte sich um.
Doch langsam buddelte sie sich heraus aus dem Sumpf, nahm weiter Songs auf, beschäftigte sich intensiv mit der Musik von Weill und Brecht (Lieblingskomponisten ihrer Mutter, die im Brecht-Weill-Ensemble Balletttänzerin gewesen war), und arbeitete immer wieder mit Weggefährten wie Keith Richards oder Roger Waters, später mit Nick Cave, Metallica, PJ Harvey oder Damon Albarn.
Dass sie für die Hauptrolle im feministischen Drama „Irina Palm“ 2007 weltweit gefeiert wurde, war eine späte Genugtuung und der Beweis für die Ambivalenz der normativen, weiblichen Attraktivität: Eine wie Faithfull musste die 60 überschreiten, bevor man sie als Künstlerin so ernst nahm, wie ihr Leben war.
Geschwächt durch allerlei Krankheiten, von Brustkrebs bis hin zu Long Covid, machte sie weiter, nahm 2020 ein Poesie-Album mit Gedichten von Percy Shelley oder Lord Byron auf. Sie glaube an Wunder, erklärte sie damals in einem Interview. Denn sie sei schließlich immer noch da.
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