Nachruf auf Jazzmusiker Rolf Kühn: Er verfeinerte das freie Spiel

Rolf Kühn hat mit den Größen des Jazz gespielt, zog von Ost- nach Westdeutschland und war ein wichtiger Multiplikator. Nun ist er 92-jährig gestorben.

Portrait von Rolf Kühn mit

Er war ein großer Klangarchitekt: Rolf Kühn (1929–2022) Foto: Gregor Fischer/dpa

Rolf Kühn war eine Jahrhundertfigur nicht nur des Jazz, den der am 29. September 1929 in Köln geborene und in Leipzig aufgewachsene Ausnahmemusiker seit seinen ersten Auftritten als 16-Jähriger und bis heute prägte.

Der Sohn eines Zirkusartisten, als musikalisches Wunderkind von den großen Klarinettisten des Leipziger Gewandhaus-Orchesters nach 1933 heimlich unterrichtet, da er als „Halbjude“ offiziell Unterrichtsverbot hat. Kühn erlebt die Repressionen der Nazizeit, gefolgt von denen der Geheimpolizei nach 1945 im Sowjetischen Sektor.

Im Gründungsjahr der DDR 1949 verlässt er Leipzig und arbeitet beim RIAS Rundfunkorchester in West-Berlin, bevor er 1956 nach New York auswandert und dort mit US-Größen wie Chet Baker, Lester Young, Coleman Hawkins und Sarah Vaughan in der Carnegie Hall spielt. Er verbringt die Nächte auf Partys von Thelonious Monk, geht mit seinem ersten Idol Benny Goodman auf Tour und wohnt in der 87. Straße am Central Park West, im Stockwerk über Billie Holiday.

1964 nimmt er gemeinsam mit seinem noch in Leipzig lebenden jüngeren Bruder Joachim Kühn für Amiga das Album „Solarius“ auf, das in der DDR Kultstatus erhält und heute als eine der wichtigsten Aufnahmen des deutschen Jazz gilt. Erst 1966 gelingt es Rolf Kühn, mithilfe des Pianisten Friedrich Gulda seinem Bruder Joachim zur Flucht zu verhelfen.

Über 90 Jahre und kein bisschen leise

Im Sommer 1967 treten sie gemeinsam auf dem Newport Jazzfestival auf, zu hören auf der 2019 zu seinem 90. Geburtstag erschienenen Vinyl-Box. Der in der New York Times als außergewöhnlich und herausragend beschriebene Auftritt führt zu einer Aufnahme für das legendäre Label Impulse! mit der Rhythmussektion von John Coltrane. Ein Requiem für den drei Tage vorher gestorbenen Saxofonisten, den sie noch aufgebahrt sehen, bevor Rolf Kühn zurück nach Deutschland fliegt.

Es folgen epische Jazzrock-Konzeptalben für MPS. Immer weiter verfeinert er dabei das freie Spiel, lotet Improvisationsräume aus. Er nimmt mit Ornette Coleman auf und spielt mit jungen Musikern, wie dem Schlagzeuger Christian Lillinger, dem Gitarristen Ronny Graupe und dem Bassisten Johannes Fink. Er gründet neue Gruppen, integriert Cello und Laptop, komponiert und plant neue Aufnahmen.

Noch bis Oktober 2022 sind die geplanten nächsten Auftritte auf seiner Webseite gelistet. Berührend war sein Auftritt beim Berliner X-Jazz-Festival in diesem Jahr, bejubelt mit stehenden Ovationen. Dann das letzte Konzert, am 4. Juni in der vollbesetzten Hamburger Elbphilharmonie. Am Ende erheben sich die zweitausend Zuschauer*innen, um dem 92-Jährigen zu applaudieren. Für diesen, noch immer verblüffend kraftvollen Ton, der den Raum mit einer kristallenen Klarheit füllte, virtuos und vorwärtsdrängend. Und für ein Lebenswerk. Am 18. August ist der große Klangarchitekt des Jazz infolge einer Operation nur wenige Wochen vor seinem 93. Geburtstag gestorben. Rolf Kühn, der noch so viel vorhatte, wird fehlen.

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