Nachruf auf Genesis P-Orridge: Unterhaltung durch Schmerz
Genesis Breyer P-Orridge von Throbbing Gristle, war eine der einflussreichsten Künstlerinnen der Popgeschichte. Jetzt ist sie in New York gestorben.
Genesis Breyer P-Orridge, am Samstag im Alter von siebzig Jahren an den Folgen einer schweren Krebserkrankung verstorben, wurde als Neil Andrew Megson in Manchester geboren. Zuletzt definierte er/sie sich als Angehörige des dritten Geschlechts und lebte damit ein Experiment.
Von diesem Experiment zeugen die Artefakte, die sie hinterlassen hat – wobei die wichtigsten Werke signifikanterweise jene sind, die mindestens so viel der Kreativität ihrer Mitstreiter verdanken wie ihrer eigenen. Ihre Band Psychic TV, mit der Breyer P-Orridge in den Jahren vor ihrem Tod wieder tourte, hatte zuletzt den Charme einer etwas überlebten Psychedelic-Rockgruppe.
Genesis P-Orridge, wie er sich seit den frühen 1970ern nannte, war als Künstler der Performancegruppe COUM und als Sänger der Bands Throbbing Gristle und Psychic TV in den 1980ern ein legendärer Typ und machte in den 1990ern durch das Pandrogynie-Projekt von sich reden.
Geschlechtliche Angleichung mit Lady Jaye
Seine Frau Lady Jaye und er unterzogen sich einer Reihe von plastischen Operationen, die darauf abzielten, sich äußerlich und geschlechtlich anzugleichen. In den vergangenen zehn Jahren wurde Genesis Breyer P-Orridge vor allem in queeren und popkulturellen Kreisen als Ikone gehandelt, deren Verehrung Teilhabe an einem Radikalismus versprach, der weit über das hinauszugehen schien, was Popkünstler heute noch verkörpern können.
Über subkulturelle Zirkel hinaus wurden COUM bekannt, als sie 1976 einen Skandal verursachten, als sie in ihrer „Prostitution“-Ausstellung im Londoner ICA pornografische Fotos des Gruppenmitglieds Cosey Fanni Tutti und gebrauchte Tampons ausstellten. „Zerstörer der Zivilisation“, schmähte sie ein britischer Parlamentsabgeordneter, und das wollten sie in gewisser Hinsicht auch sein.
P-Orridge und seine Mitstreiterinnen bedienten sich fortan des popkulturellen Vehikels einer Band namens Throbbing Gristle. Sie machten sich zur Aufgabe, den von William S. Burroughs so benannten staatlich-gesellschaftlichen „Kontrollprozess“ anzugreifen, der Gilles Deleuze wenig später zu seiner Theorie der „Kontrollgesellschaften“ inspirierte.
Entertainment through Pain
Auf der Bühne improvisierten TG, um jede Form von Unterhaltung zu hintertreiben – „Entertainment through Pain“ lautete einer ihrer vielen Slogans. Ihre „metabolic music“ zielte auf den Körper, während sich ihre Öffentlichkeitsarbeit die Mechanismen der Massenmedien zunutze machte.
Throbbing Gristles Musik handelte also von Langeweile, Verblödung, Massenmord, Selbstbestimmung, Sex und Medien. Auf der Bühne stellten sie große Stroboskope auf, um ihr Publikum zu blenden. Auf fast wissenschaftliche Weise experimentierten sie mit Frequenz und Rhythmus. Als eine der ersten Pop-Bands nutzte die Band Loops und Samples und baute sich selbst elektronische Klanggeneratoren.
Wo die Körper ihrer Hörer gezielt zu Adressaten von Manipulationen wurden, thematisierte Bandmitglied Cosey Fanni Tutti die Verfügbarkeit von Frauen und deren Sexualität. In ihrer vor einigen Jahren veröffentlichten Autobiografie erzählte die Musikerin aber davon, dass Genesis P-Orridge sie, als die beiden ein Paar waren, manipulierte, körperlich attackierte und schließlich, als sie sich von ihm trennte, um ein Haar schwer verletzt oder getötet hätte. Wobei unklar bleiben muss, ob es Absicht war, als er beim Sonnenbaden einen massiven Stein nach ihr warf, der nur knapp neben ihrem Kopf landete.
Priester einer Glaubensgemeinschaft
Nach dem Ende von TG gründete P-Orridge mit anderen die Band Psychic TV und den Temple ov Psychick Youth, der als dezidierter Anti-Kult und Parodie auf organisierte Religionsgemeinschaften begann, sich bald aber selbst zur autoritären Sekte wandelte. „Every man and woman is a star“, hatten Psychic TV proklamiert, doch ihre Anhänger sollten ihre Individualität aufgeben. Anfang der 1990er zog sich P-Orridge aus dem Temple zurück und ging in die religionsfreundlichen USA, wo er offiziell als Priester einer Glaubensgemeinschaft galt und als solcher zwei Ehen schloss.
Genesis Breyer P-Orridge war eine eminent einflussreiche Figur für die Popkultur der 1970er und 1980er Jahre. Ihre Ambivalenzen und dunklen Seiten erzählen uns davon, wie der Wille zur Überschreitung und zur radikalen Freiheit jederzeit Gefahr läuft, missbraucht zu werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!