Nachruf auf Evelyn Richter: Patchwork Geschichte
Sie war Fotografin, Bildredakteurin, Professorin. Evelyn Richter hat ein illusionsloses Bild der DDR in der Fotografie mitgeprägt.
Dort, wo Evelyn Richter fotografiert hat, waren die Menschen müde. In den Zügen hielten sie sich, halbwegs schlafend, noch soeben aufrecht. In Maschinenhallen, nur teils zu sehen unter Tonnen schmutzigen Eisens, waren Frauen in Routinen festgefahren. Gestriegelt, die Kinder an der Hand, flanierten sie sonntags durch Museen, wo sie mit der Kunst ihrer Zeit nicht wirklich etwas anzufangen wussten. Keine Frage, dass Menschen, die diese Bilder betrachteten, sich in ihnen erkannten. Falls sie sie jemals gesehen haben.
Evelyn, die von ihren Eltern auf eine calvinistische Zinzendorfschule bei Dresden geschickt wurde, damit sie dem Nazidrill entginge, durfte später nicht Goldschmiedin werden, so etwas Schönes gönnte man bürgerlichen Kindern nicht. Fotografie studieren in Leipzig, das ging. Fotografie gab es gar nicht im Kunstsystem der DDR, lange nicht, höchstens eine „Fotografik“. Nach einigen Semestern wurde Evelyn Richter unter einem Vorwand exmatrikuliert. So begann ihr Berufsleben.
Dieses endete, Ironie der Geschichte, mit einer sogenannten Ehrenprofessur an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig, wo sie einst vor die Tür gesetzt worden war. Sie steht noch jetzt als „Professor“ im Telefonbuch.
Wie so viele, die in Ostdeutschland wurden, was sie wurden, war sie später überidentifiziert mit den Verhältnissen, in denen sie erwachsen geworden war. Eine straffe Lady, das graue Haar hinter dem Kopf gebündelt, sehr deutsch – die sächsische Variante. Sie hatte zunächst bei einem konventionellen Porträtisten, Pan Walther, das Atelierhandwerk gelernt: Plattenkamera, Labor, Retusche. Als Walther in den Westen türmte, blieb sie im Osten, wurde 1961 eingemauert und hat dann eine kleine Karriere gemacht.
Es gab, trotz enormer Schwierigkeiten, Buchprojekte über David Oistrach und Paul Dessau. Ihre große Chance kam mit der Bebilderung eines fortschrittlichen, wenn auch um Jahre verspäteten Buchs über Kleinkindpädagogik, pompös betitelt „Entwicklungswunder Mensch“ (1980). Hier gab sie sich mit der Rolle als halber Fotografin zufrieden und wechselte auf die Seite des „Bildredakteurs“, als den sie das Impressum verzeichnet.
Die Bilder, die sie von Kolleg(innen) einsammelte, zeigen im Nachhinein einen getreuen, nahen Blick in Familienwohnungen und auf Kinderhorte zwischen Leipzig und Berlin in den siebziger Jahren. Kleinkinder mit Topffrisuren, Babys auf Töpfen. Bei aller Liebe: Summerhill war das nicht.
Unter ihrer Lehre, in Leipzig, entwickelte sich eine Schule der Illusionslosigkeit, die umso tiefer schürfte, als sie nicht fürchten musste, in ideologische Debatten gezogen zu werden – noch nicht. 1980 aber wurde die Fotografie in der DDR offiziell eine Kunst, den Entwicklungen im Westen vergleichbar, nicht aber in ihren Konsequenzen. Geradezu abwegig: Im Jahr 1989 bekam Evelyn Richter den Kunstpreis der DDR verpasst.
Mitten in den Montagsdemo
Gleichzeitig war sie auf der Straße, mitten in den Montagsdemos. Als alle ihren Kopf verloren und keiner mehr, vor lauter Gefühl, noch gute Bilder machen konnte, fotografierte Richter zwei sehr junge Frauen in voller Herbstmontur mit Kerzen, ostdeutsche Jeanne d’Arcs, verblüffend ähnlich – die eine noch in der Melancholie der Vergangenheit gefangen, die andere auf den Betrachter zu schreitend in die Zukunft, heller, engelsgleich. Eigentlich nur zwei Schwestern auf einer Kundgebung, von Richter bildlich gefasst als Allegorie.
Das Gegenbild, dreizehn Jahre zuvor, war auch in Leipzig entstanden, und es wird bleiben: zwei Buben mit großen Fahnen auf dem Rücken, im Weggehen gesehen. Im Dunst ein stolzer Plattenbau, der ihre Zukunft verriegelt, und als Vedute gebaut Andeutungen von Gründerzeithäusern rechts und links. Unglaublich das Flickenmuster von Kopfsteinpflaster und geteerter Straße – Patchwork-Geschichte im Jahr der Ausweisung Wolf Biermanns. Soeben sind die Buben, heimkehrend, auf das glänzende Schwarz getreten, wo sie nun für immer verharren werden, eingereiht in die jahrhundertealte Ikonografie geschlagener Helden.
Bleiben wird auch ihr Porträt einer winterlich gekleideten, bebrillten Straßenbahnpassagierin, gesehen von außen nach drinnen, die sich in den reflektierenden Fensterscheiben der fahrenden Bahn auflöst, woman in the crowd. Bis dahin, 1972, musste Evelyn Richter klargeworden sein, dass sie sich im banalen und beschwerlichen Alltag einer „Erziehungsdiktatur“ (wie es T. O. Immisch, Kurator für Fotografie, nannte) würde bewegen müssen wie ein Fisch im Wasser. Die Frau in der Straßenbahn war eigentlich sie selbst. Am Sonntag ist sie mit 91 Jahren in Dresden gestorben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen