Nachruf auf Ágnes Heller: Ungarns Gewissen
Erst überlebte Heller die Nazis, dann verbot ihr die KP zu publizieren. Zuletzt verfolgten sie die Büttel von Viktor Orbán mit Rufmordkampagnen
Einen guten Teil ihres philosophischen Lebens wurde Heller von der Frage umgetrieben, wie Auschwitz und die sowjetischen Gulags passieren konnten: „Wie können Staaten und Gesellschaften zustande kommen, in denen so etwas selbstverständlich praktiziert wird?“ Im hohen Alter resümierte sie: „Auf diese Fragen habe ich keine Antwort bekommen, denn wo es Tausende Antworten gibt, gibt es keine Antwort.“ Die Antwort sei „nur in Taten zu finden, dass man so etwas nicht mehr tut“.
Schon als Jugendliche war Heller mit ihrem wachen Geist aufgefallen. Sie erinnerte sich an ihren ersten Freund, der erstaunt konstatierte: „Wie gescheit du bist, obwohl du ein Mädchen bist!“ Seither zog sie die Gesellschaft von Philosophen vor.
Dass Ágnes Heller überhaupt zur Philosophie kam, verdankt sie einer Art Erweckungserlebnis. Nach dem Krieg studierte sie in Budapest Physik und Chemie, als sie sich in eine Vorlesung des marxistischen ungarischen Starphilosophen György Lukács (1885–1971) setzte. Sie erinnerte sich noch, dass sie zwar nichts verstanden habe, „aber ich wusste, dass es das Wichtigste war, was ich je hörte“. Also wechselte Heller die Fakultät und wurde bald Meisterschülerin des Philosophen, promovierte 1955 und wurde Assistentin von Lukács. Anfangs engagierte sie sich als Zionistin, dann trat sie mit Lukács der Kommunistischen Partei bei. Der ungarische Volksaufstand von 1956 brachte sie ins Lager der Dissidenten, die den sogenannten real existierenden Sozialismus unter der Schirmherrschaft der Sowjetunion infrage stellten.
Über Viktor Orbán und Ungarn:
„Falls Fidesz die Wahl gewinnt, was wahrscheinlich ist, ist Ungarn in der nächsten Zukunft für die Demokratie verloren. Die demokratischen Regierungen Ungarns haben unsere Geschichte vergessen, sie haben unser Volk überhaupt nicht gekannt. Sie glaubten, wenn mit den Institutionen der Freiheit alles in Ordnung ist, dann steht die Demokratie auf einem sicheren Boden. Wir zahlen jetzt alle für dieses Missverständnis.“
(taz-Interview, 22./23. 3. 2014)
Über Europa und die USA:
„Ich schätze die Vereinigten Staaten von Amerika mehr als Europa. Weil die Amerikaner nicht zynisch sind. Sie glauben an die Freiheit, an die Demokratie. Sie mögen naiv sein und borniert, aber trotzdem haben sie Hoffnung. Und das ist wertvoll im Vergleich zu den europäischen Bürgern. Der europäische Zynismus hat keinen Glauben – an gar nichts. Und sie haben keine Kinder. Alle meine Studenten in den USA haben drei oder vier Kinder, weil sie an die Zukunft glauben. Und sie können integrieren. Es gibt keine größere Patrioten in den USA als die Immigranten. Sie müssen ihre nationalen Traditionen nicht aufgeben, um Amerikaner zu sein. Europa marginalisiert die anderen Kulturen. Europa ist in diesem Sinne impotent.“
(taz-Interview, 9./10. 4. 2011 – als Orbán-Fans gegen sie beim taz-Kongress demonstrierten)
Über Napoleon, Hitler und Stalin:
„Neben Rothschild ist Napoleon der erste Selfmademan in der Geschichte. Sie symbolisierten als Erste die unbegrenzten Möglichkeiten des Einzelnen in der neuen Welt. Nicht zufällig identifizierten sich gerade Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Menschen in den Irrenhäusern mit Napoleon. Napoleon prägte als Erster zugleich das Image des Führers, für den die Sitten nicht mehr verbindlich sind, der macht, was er persönlich durchzusetzen imstande ist, ohne sich um den Preis dieser Haltung zu kümmern Wie Napoleon, so glaubten auch Hitler und Stalin, dass sie das Neue gegenüber einer alten Welt repräsentierten, eine Welt des Heroismus gegenüber der Welt der Vernunft und des Geldes.“
(taz-Interview, 25./26. 3. 2006)
Über Osteuropa und den Balkan:
„Für Osteuropa ist die Abwesenheit von oder das Defizit an Souveränität eher der Normalfall. Die politische Landkarte dieser Weltgegend wurde während der gesamten Neuzeit und bis zu diesem Augenblick von großen Hegemonialmächten gezeichnet. Im 19. Jahrhundert wurde die Region vom Russischen, vom Osmanischen und vom Habsburger Reich beherrscht; das war der erste Akt des Dramas. Seit den 30er Jahren gab Nazideutschland den Tod an. Das führte zum dritten Akt, dem Zeitalter des Krieges. Die sowjetische Herrschaft brachte Akt vier. Hier konnte sich keine rückwirkende Legitimation entwickeln; so etwas braucht Souveränität, Freiheit und Zeit. In dieser Hinsicht erstarrte die Geschichte. Erst jetzt kann der fünfte Akt des Dramas zur Aufführung gelangen. Er wurde zum abschließendes Akt einer klassischen Tragödie; er wurde mit Blut geschrieben. Und wie in allen Tragödien waren es Irrtümer und Verbrechen, die die Ereignisse zum tödlichen Ausgang trieben.“
(taz-Debattentext, 18. 8. 1992)
Die Konsequenz ihrer kategorischen Ablehnung totalitärer Systeme war der Rauswurf aus der Uni und ein Publikationsverbot. Dem war eine mit der Drohung der Hinrichtung erpresste demütigende Selbstkritik vorausgegangen. Rechte Medien haben in den letzten Jahren einen Brief ausgegraben, den Heller 1959 an die Kommunistische Partei geschrieben haben soll. Darin verurteilt sie den Aufstand von 1956 als Konterrevolution und bittet, wieder an der Universität arbeiten zu dürfen. Heller bestritt die Echtheit dieses Schreibens.
Mit marxistischer Analyse formulierte Heller eine „Theorie der Bedürfnisse“, der folgerichtig eine Kritik an der „Bedürfnisdiktatur“ in den Ländern des osteuropäischen Realsozialismus entsprang. Heller charakterisiert die Gesellschaften als „totalitäre Systeme“, in denen der Mensch Untertan sei und keine staatsfreien Räume vorfinde. „Damit stellt die Sowjetgesellschaft den vollständigen Gegensatz zu dem Programm dar, das der frühe Marx einmal entworfen hatte“, so 1983 Hellers Weggefährte, der deutsche Politologe Iring Fetscher. Den hatte Heller 1965 auf der Adria-Insel Korčula, kennengelernt, wo jugoslawische Philosophen Denker-Konferenzen veranstalteten. Dort traf sie auch auf Jürgen Habermas, Ernest Mandel, Ernst Bloch und andere Größen der Zeit.
Hellers Erstlingswerk „Der Mensch in der Renaissance“ erschien noch 1967 in Ungarn. Erst elf Jahre später folgte eine englische Übersetzung und gar erst 1988 die deutsche.
Öffentliche Proteste gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings durch Truppen – auch ungarische – des Warschauer Pakts im August 1968 hatten bewirkt, dass Heller und andere Intellektuelle wieder verstärkt unter Beobachtung des Regimes standen. Dem damit verbundenen Berufsverbot entzog sich die Philosophin, als sie 1977 mit ihrem Mann einem Ruf nach Australien folgte, wo sie an der La Trobe University in Melbourne eine Professur für Soziologie bekam. 1986 wurde sie dann auf den Hannah-Arendt-Lehrstuhl an der New School for Social Research in New York berufen.
In Hannah Arendt erkannte Heller „eine Freundin im Denken, weil auch sie alle Ismen verabscheute, […] ihrer Fehlbarkeit bewusst war, weil sie leidenschaftlich, aber nie zornig war und weil sie sich dazu aussprach, sowohl zu handeln als auch etwas zu schaffen für die persönliche als auch die politische Freiheit“. Arendts Philosophie sah Ágnes Heller als „freundlich und einladend“. Und sie habe keine Angst gehabt, Fehler zu machen. „Diese Aspekte“, so Verena Paul von der Stiftung Demokratie Saarland vor knapp einem Jahr, „gelten nicht nur für Hannah Arendt, sondern im gleichen Maße auch für Ágnes Heller.“
Wenige Philosophen und Philosophinnen haben ihr eigenes Denken so sehr infrage gestellt und immer wieder kritischer Reflexion unterzogen wie Heller, die in ihrem 2017 erschienenen Buch „Eine kurze Geschichte meiner Philosophie“ einen kritischen Blick auf ihr eigenes Denkgebäude wirft. Dabei habe sie nicht alles verworfen, was sie vorher geschrieben hatte, vielmehr „muss ich Teile durch andere Teile ersetzen, aber nicht das ganze Gebäude niederreißen“. Sonst könne man „kein anderes Gebäude aufbauen“, erklärte sie damals.
Die Jugend suche immer nach Antworten, aber sie habe den Versuch, philosophische Fragen lösen zu wollen, vor 30 Jahren aufgegeben: „Ich kam zur Konklusion, dass ich wichtige Probleme unserer Menschenrasse, wenn ich so sagen darf, unserer menschlichen Geschichte, nur aufwerfen kann, aber nicht lösen.“ Vermeintliche Antworten seien immer nur in ihrer Zeit gültig, aber mit der Zeit verändere sich alles.
In der Folge des Mauerfalls kehrte Heller nach Ungarn zurück, behielt aber ihren Zweitwohnsitz in New York. Ideologisch ordnete sie sich inzwischen als liberale Demokratin ein. Als Heller 2012 den Carl-von-Ossietzky-Preis verliehen bekam, schrieb die Jury in ihrer Begründung, sie erhalte den Preis „aufgrund ihrer Furchtlosigkeit“. So musste Heller bei Orbán, der die Einschränkung der Freiheitsrechte mit einer Kampagne gegen die Philosophen anfing, in Konflikt geraten. Die Anfeindungen, denen sie zuletzt ausgesetzt war, nahmen auch immer wieder antisemitischen Charakter an. Orbáns Büttel verfolgten sie mit Rufmordkampagnen.
Im Interview mit der taz sprach Heller schon vor fünf Jahren von „fundamentalistisch-nationalistischer“ Politik. Orbáns Standpunkt sei: „Wer sich nicht mit unserer Politik identifiziert, ist kein echter Ungar, der ist ein Verräter.“
Heller hielt sich für ihre anstrengende Vortrags- und Reisetätigkeit körperlich fit, indem sie täglich im Pool im Keller ihres Hauses ihre Runden zog. Am 14. August sollte sie im Tiroler Bergdorf Alpbach das Europäische Forum zum Thema „Freiheit und Sicherheit“ eröffnen. Davor erholte sie sich in einem Ferienhaus der Ungarischen Akademie der Wissenschaften am Plattensee. Am 19. Juli schwamm die 90-Jährige auf den See hinaus und kam nicht mehr zurück.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert