Nachhaltige Fischerei in der Ostsee: Mehr Fisch, weniger Klimawandel
Eine gesunde Ostsee und gleichzeitig mehr Hering und Dorsch auf dem Teller? Das ist möglich. Doch dafür müsste erst mal weniger gefischt werden.
Die Forscher:innen haben Unmengen an Daten über alle relevanten Lebewesen in der Ostsee aus vielen Dutzenden wissenschaftlicher und behördlicher Datensätze zusammengetragen. Erfasst haben sie über hundert Fisch- und 50 Vogelarten, Wale, Robben, Quallen, Plankton und Algen. Gezählt wurde in dieser Metastudie unter anderem, wie viele Individuen es von welcher Art gibt, welchen Platz in der Nahrungskette sie einnimmt und an welchen anderen Ursachen sie sterben. Aus diesen Daten haben die Wissenschaftler:innen das bisher vollständigste Modell dieses Ökosystems erstellt.
Das Modell ermöglicht Vorhersagen über die Entwicklung der westlichen Ostsee in den nächsten Jahrzehnten, je nachdem, welche Fischfangquoten vorgegeben werden. Zentrales Ergebnis der Studie ist, dass Ernährung, Fischwirtschaft und Natur nicht in einem grundsätzlichen Konflikt zueinander stehen müssen.
Bislang gibt es diesen Konflikt allerdings. Beispiel Hering: Heringe fressen Plankton. Raubfische, Meeressäuger und Vögel fressen Heringe. Diese sind also ein zentrales Bindeglied in der Nahrungskette. Doch auch Menschen mögen Hering – und so ziehen Fischer heutzutage etwa achtmal mehr Fisch aus dem Meer, als alle Vögel, Robben und Schweinswale zusammen fressen. In der Konsequenz gab es 2019 schon 75 Prozent weniger Hering in der westlichen Ostsee als noch im Jahr 1994.
Kritische Lage beim Dorsch
Weniger Hering bedeutet weniger Nahrung für den Dorsch. Das ist nicht das einzige Problem für diesen Fisch, der in den vergangenen Jahren traurige Berühmtheit erlangte: Sein Bestand in der Ostsee ist praktisch zusammengebrochen. Durch Klimaveränderungen und Überdüngung durch eine intensive Landwirtschaft werden die Bedingungen für die Fortpflanzung der Fische immer schlechter. Es gibt zu wenig Nachwuchs, gleichzeitig holen die Fischer noch immer viel zu viel Fisch aus dem Meer. „Der Dorsch ist kaputtgefischt worden“, sagt der Meeresbiologe Rainer Froese, Mitautor der Studie. Die Fangquoten wurden zu langsam gesenkt. Und so schrumpfen die Bestände weiter. Die Fangquoten müssen weiter gesenkt werden. Ein Teufelskreis.
Noch ist es möglich, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Die Berechnungen der Forscher:innen zeigen: Würde ein sogenanntes ökosystembasiertes Fischereimanagement angewendet, könnten sich die Bestände erholen. Bis 2050 würden die Erträge gegenüber dem Referenzzeitraum von 2015 bis 2019 beim Dorsch um 70 Prozent und beim Hering um 50 Prozent steigen.
Doch dafür müssten die Fangmengen vorübergehend massiv gesenkt und für einige Arten sogar ganz auf null gesetzt werden. Froese spricht von drei bis vier Jahren Pause, die der Hering bräuchte.
In der Zwischenzeit dürften nur Schollen und andere Plattfische gefischt werden. Aber geht das überhaupt, ohne dass andauernd Dorsch im Netz landet? Froese meint: „Ja. Die Fischer wissen sehr genau, was man machen muss, um den Beifang an Dorsch möglichst gering zu halten. Völlig auf null kann man ihn nicht bringen, aber man kann ihn weit herunterfahren.“ Die Einnahmeausfälle müssten nicht die Fischer:innen tragen, findet er: „Die Fischer tragen ja jetzt schon den Schaden, und sie haben die Fangmengen nicht festgelegt, sie müssten entsprechend entschädigt werden.“ Notwendig seien dafür zweistellige, vielleicht knapp dreistellige Millionenbeträge, schätzt der Forscher, „dann haben wir wieder eine gesunde Fischerei“.
Mehr CO2 für die Ostsee
Das ist die erste erfreuliche Erkenntnis aus der Arbeit der Forscherinnen. Die Bestände können sich allein durch ein nachhaltiges Fischereimanagement erholen. Trotz der zusätzlichen Stressfaktoren wie Klimawandel und Überdüngung, die der Ostsee zu schaffen machen. Und es gibt noch eine zweite erfreuliche Erkenntnis, die nur entstanden ist, weil ein Gutachter der Studie das Team dazu gedrängt hat, auch Klimaaspekte zu untersuchen.
Das Ergebnis: Gäbe es in der westlichen Ostsee wieder mehr Fische, könnte sie dreimal mehr CO2 aus der Atmosphäre aufnehmen als heute. Die Ausscheidungen der Fische sinken auf den Meeresgrund, werden in den Boden eingearbeitet und so langsam dem System entzogen. Forscher Froese: „Je mehr Fische im System sind, desto mehr CO2 können sie aufnehmen und nach unten weitergeben.“ Insgesamt absorbieren die Ozeane etwa 27 Prozent der globalen CO2-Emissionen. Es geht also um viel.
„Gesunde Ökosysteme sind bessere CO2-Senken als Systeme, die extrem gestört sind“, sagt Phillip Kanstinger, Meeresbiologe bei der Naturschutzorganisation WWF. Verblüffend findet er, dass „die Schweinswalpopulation relativ einfach zu retten ist, wenn der Fischereidruck abnimmt“. Zurzeit sehe es für die östliche Population gar nicht gut aus.
Rezilienz gegen Kipppunkte
Schweinswale sind Säugetiere und müssen für ihre Jungen fetthaltige Milch produzieren. Deshalb brauchen die Muttertiere fetthaltige Nahrung, die sie normalerweise bekommen, indem sie Heringe fressen. Weil dessen Bestand zurückgeht, muss der Wal auf andere Nahrungsquellen umstellen und sich mit kleineren Fischen begnügen. Und er muss auf der Suche nach Nahrung weitere Wege zurücklegen. Dadurch steigt auch das Risiko, unbeabsichtigt in einem Fischernetz zu landen.
Kanstinger weist auf einen weiteren positiven Effekt einer nachhaltigen Fischerei hin, der im Kontext der Klimaerwärmung relevant ist: Das System würde resilienter. „Ein größerer Bestand hat eine größere genetische Variabilität. Dadurch treten Kipppunkte weniger schnell ein und das Gleichgewicht bleibt viel besser erhalten.“
Für die Expert:innen ist also klar, was zu tun wäre. Bisher hakt es an der politischen Umsetzung.
Kanstinger hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die Fischereipolitik der Europäischen Union sich am Zustand der Natur ausrichtet. Diese Studie sei „der nächste Beweis auf dem schon riesengroßen Haufen wissenschaftlicher Beweise, dass man mit einem nachhaltigen Fischereimanagement mehr Gewinne rausfahren und zugleich die Natur schützen kann“.
Studienautor Rainer Froese hingegen erwartet nicht mehr viel von der Politik. Im Gespräch mit den Verantwortlichen höre er immer nur Begründungen, warum sie weiter business as usual machen. Und das, obwohl eigentlich viel Geld da sei. Doch die Mittel würden nicht für die Bestandserhaltung eingesetzt, zum Beispiel durch Ausgleichszahlungen. Sondern dafür, die Überfischung zu erhalten, etwa durch die Subventionierung von Diesel. „Die politischen Entscheider:innen sind im System gefangen“, sagt Froese.
Ganz aufgegeben hat er jedoch noch nicht. Er setzt auf „eine Allianz der Besorgten“ und meint damit „Fischer, die auch in zehn Jahren noch fischen wollen, Angler, die Naturschutz ernst nehmen und Köche, die wollen, dass ihre Gäste leckeren Fisch mit gutem Gewissen genießen können“. Sie müssten sich zusammen an einen Tisch setzen und nicht weiter auf die Politik warten, sagt Froese: „Das ist meine Hoffnung.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“