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Nachdenken über Raum und ZeitDas Gefühl Fernheimweh

Manchmal kann die Berliner Sonnenallee sich anfühlen wie 8.400 Kilometer südöstlich. Warum? Die Serie „Dark“ liefert die Antwort.

In ein matschiges Stück Wassermelone treten und sich daran erinnern, dass das Herz noch da ist Foto: Elena Koycheva/Unsplash

J edes Jahr im Sommer packt mich das Fernheimweh. Ich gehe dann die Sonnenallee hinunter, an offenen Gar­küchen vorbei und durch Dampfschwaden hindurch, es riecht nach frisch gebackenem Brot, nach Grillfleisch, nach Frittieröl.

Neben mir laufen nackte Füße in Plastikschlappen; wenn ich die Augen schließe, ist die Sonnenallee kurze 8.400 Kilometer weiter südöstlich, und wenn ich in ein matschiges Stück Wassermelone trete, erinnere ich mich, dass mein Herz noch da ist. Weil ich dann noch mehr eingehen will in meinem Fernheimweh, ­gucke ich zu Hause Youtube-Videos, in denen Ü-50-Frauen in Daunenjacken zu klimpernder Fahrstuhlmusik shanghainesische Gerichte ihrer Kindheit zubereiten.

Ich habe neulich versucht, alle Dinge in meiner Wohnung zu zählen, die mit China zu tun haben. Ein Großteil sind Bücher, Essstäbchen, Porzellan, Schmuck und Kleidung. Manches ist sofort ersichtlich (Objekt #38: ein Beistellschränkchen aus dem chinesischen Antiquitätenladen, der aus dem Kiez weggentrifiziert wurde), manches gar nicht, wenn man die Dinge nicht kennt (Objekt #2: eine alte Schieferziegel vom Geburtshaus meiner Großmutter).

Bei 108 habe ich aufgehört zu zählen, weil mir die Zahl immens belastend vorkam. Ich musste an Marie Kondo denken und Dinge, die joy sparken, und ich musste mich fragen, wie obsessiv Menschen (ich) damit sind, Gegen­stände zu sammeln, auszustellen und wegzusortieren.

Dinge, die Gefühle sparken

Vor ein paar Wochen habe ich die neue Staffel „Dark“ geguckt, darin geht es auch ums Zeitreisen. Irgendwann erkennen die Pro­ta­go­nis­t:innen, dass die Frage nicht lautet, wo jemand oder etwas ist, sondern wann. Und weil es parallele Universen zu geben scheint, sind Momente und Dinge und Menschen zum Beispiel sowohl 1921 als auch 2019. Diesen Gedanken finde ich sehr logisch. Schließlich transportieren Dinge Geschichte und Geschichten, jedenfalls solche, die Gefühle sparken. In der Net­flix-Serie heißt das: Alles ist miteinander verbunden.

Was, wenn 108 Dinge nicht nur jetzt sind, sondern auch früher? Wenn von jedem Essstäbchen aus dünne Fäden wie Spinnweben von hier bis an den Ort und die Zeit ihrer Herkunft verlaufen? Kein Wunder, dass das belastend ist. In einem nicht genau zu bestimmenden Jahr in den 1920ern wurde Abu unter Schiefer­ziegeln geboren, fast 100 Jahre später liegt eine dieser Ziegeln auf einem Berliner Regalbrett.

Fernheimweh sehnt sich nicht nur nach einem Ort, sondern auch nach einer Zeit, sonst wäre es niemals so romantisch. Auf der Sonnenallee tritt eine sehnsüchtige Dreißigjährige im Jahr 2020 auf ein matschiges Stück Wassermelone, und in einem ostchinesischen Dorf schaut eine faszinierte Vierjährige im Jahr 1994 dabei zu, wie kräftige Männerhände kühle Wassermelonen aus einem Brunnen hieven. Und ganz kurz ist beides zwar 26 Jahre voneinander entfernt, aber eben trotzdem gleichzeitig.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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