Nach russischen Angriffen auf Stromnetz: Angst vor dem ukrainischen Winter
Viele Ukrainer*innen wissen nicht, wie sie die kalten Monate überleben sollen. Sie brauchen Solarzellen, Windräder – und offene Arme.
N astja ist verzweifelt. Die 26-jährige Zahnarzthelferin hat Angst. Angst vor dem Winter, Angst vor dem Alleinsein, Angst vor den Luftangriffen, Angst vor schlechten Nachrichten, Angst vor einer kalten Wohnung. Vor fünf Wochen wurde ihr Freund auf der Straße in einen Bus gezerrt. Er muss zum Militär, genauer gesagt, in den Krieg, oder wie man in der Ukraine sagt, an „die Null“, wie die Front genannt wird.
„Er ist praktisch mit den Sachen, die er am Leib hatte, zum Militär“, sagt sie. Nicht einmal verabschieden habe sie sich noch von ihm können. Und nun ist auch ein Verdiener weniger in der Wohnung. Sein Zimmer wird sie wohl untervermieten müssen, alleine kann sie die Miete nicht stemmen.
Oles will umziehen. Er wohnt mit seiner Familie in einem Vorort von Kyjiw. „Meine Wohnung liegt genau in der Flugschneise der Drohnen, die von Russland Richtung Schitomir fliegen. Ich will das meinen Kindern nicht mehr zumuten“, sagt er. Nun werde er sich eine andere Wohnung suchen: In Kyjiw hat sich inzwischen herumgesprochen, wo es ruhiger ist und wo die Gefahr am höchsten ist.
In den früher so beliebten Penthouse-Wohnungen will niemand mehr leben. Am beliebtesten sind Wohnungen im Erdgeschoss. Denn dort fliegen seltener Raketen oder Drohnen rein. Noch besser sind Häuser mit eigener Tiefgarage. Das sind gute Schutzbunker. Manch einer zieht aufs Land, wo er einen Garten für Gemüse hat und eine Fläche für eine Solaranlage.
Hier sieht alles ungewohnt aus? Stimmt, seit Dienstag, 15.10.2024, hat die taz im Netz einen rundum erneuerten Auftritt. Damit stärken wir, was die taz seit Jahrzehnten auszeichnet: Themen setzen und laut sein. Alles zum Relaunch von taz.de, der Idee dahinter und der Umsetzung konkret lesen Sie hier.
Strominfrastruktur im Visier
Jeder versucht, auf seine Weise zu überleben. Oder zumindest gut über den Winter zu kommen. Und weil Russland viele Kraftwerke durch Luftangriffe bereits zerstört und auch weitere Teile der Strominfrastruktur im Visier hat, wird das nicht einfach sein.
Die Ukraine braucht deshalb jetzt Hilfe bei ihrer Energieversorgung. Und die kann nur mit dezentraler und umweltfreundlicher Energie, mit Solaranlagen und Windkrafträdern produziert werden. Es ist deshalb nicht verständlich, warum die ukrainische Regierung, aber auch die der westlichen Bündnispartner nicht darauf setzen, in der Ukraine verstärkt Wind- und Solarenergie zu fördern und einzusetzen. Ansonsten drohen weitere und längere Stromausfälle, die auch andere Gefahren mit sich bringen.
Dieses Thema treibt zurzeit viele im Land um: „Wenn wir nur vier Tage in Kyjiw gar keinen Strom haben, also einen vollkommenen Blackout, kommt es zu Plünderungen“, ist sich Sergiy sicher. „Ich verstehe unsere Regierung nicht. Warum müssen die ausgerechnet jetzt neue AKWs bauen“, sagt er weiter.
Abgesehen von den Gefahren, die jeder Ukrainer noch von Tschernobyl her kennt, sind AKWs zentrale Ziele, die die russischen Drohnen und Raketen ohne Schwierigkeiten zerstören könnten. „Und außerdem dauert der Bau eines AKWs mindestens fünf Jahre“, kritisiert Sergiy. „Wir brauchen die Energie aber jetzt. Und ich hoffe sehr, dass dieser Krieg in fünf Jahren Vergangenheit ist.“
Atomkraftwerke als Ziel
„Wir werden alle ein richtiges Problem haben, wenn die Russen unsere Atomkraftwerke angreifen“, sagt Iryna. Letztendlich braucht man gar nicht den Reaktor zu treffen. Es reicht, wenn die Russen die Leitungen, die ein AKW mit dem Stromnetz verbinden, zerstören. Denn dann muss das AKW eine Schnellabschaltung machen, und solche Schnellabschaltungen sind immer mit Risiken verbunden. Und wenn die Russen so etwas bei mehreren AKWs gleichzeitig machen, bricht das Stromnetz landesweit zusammen.
„An Drohnen und Raketen und Stromausfälle kann man sich gewöhnen“, sagt hingegen Nelia. „Doch woran ich mich nicht gewöhnen kann, das sind die ständigen Nachrichten von Männern, die wieder an der Front ums Leben gekommen sind.“ Jeden Tag höre sie solche Geschichten in ihrem Bekanntenkreis. „Und das zermürbt mich.“
Niemand weiß, wie die Menschen in der Ukraine den langen Winter überstehen werden. Doch einfach daneben stehen und abwarten geht nicht. Sie brauchen Solarzellen, Windräder, preisgünstigen Strom, und offene Arme, wenn sie bei uns in Deutschland überwintern wollen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos