Nach der Wahl in der Türkei: Wahlen unter Angst
Şanlıurfa ist einer der größten Wahlbezirke der Türkei. Am Wahltag soll es hier zu Manipulationen gekommen sein. Unsere Autorin war als Wahlbeobachterin vor Ort.
Am 14. Juni, wenige Tage vor den türkischen Präsidentschaftswahlen, wurden im Bezirk Suruç in der südosttürkischen Stadt Şanlıurfa vier Menschen bei einem Streit zwischen AKP- und HDP-Mitgliedern getötet. Şanlıurfa ist eine AKP-Hochburg, aber einige Dörfer unterstützen die prokurdische HDP. Im Juli 2015 starben bei einem Terroranschlag des IS in Suruç 34 junge Menschen, als sie über die syrische Grenze nach Kobane gehen wollten. Während des Referendums im April 2017 mehrten sich die Berichte aus Şanlıurfa, dass es gestohlene und manipulierte Stimmen gegeben habe, in einigen Dörfern kam es zu bewaffneten Konflikten zwischen den Wählern.
Ich bin mit zwei Freundinnen aus Berlin nach Şanlıurfa gekommen, um die Wahlen zu beobachten. Im Stadtzentrum spüre ich die politische Spannung am Tag vor der Wahl. Wenige Tage vor der Wahl in der Türkei hatte Erdoğan hier einen Wahlkampfauftritt. Plakate von ihm und türkische Fahnen hängen immer noch überall, sogar in den Cafés und Restaurants. Weil ich nur Erdoğan-Plakate sehe, frage ich mich, ob es hier eine faire Wahl geben kann.
Vor einigen Wochen schrieb der CHP-Kandidat Mehmet Ali Çelebi auf Twitter, dass er 500 Menschen suche, die die Wahl in Şanlıurfa beobachten wollen. Dort war es während des Referendums zu zahlreichen Unregelmäßigkeiten gekommen. Çelebis Aufruf verbreitete sich auf Twitter, er bekam unzählige Antworten. Einige wollten die Flugtickets der Wahlbeobachter bezahlen, andere wollten Wahlbeobachter werden. Eine davon war ich.
Am Samstagabend treffen wir uns im CHP-Büro mit den drei Abgeordneten der CHP, die in Şanlıurfa sind, um die Stimmen zu schützen. „Während des Referendums im Jahr 2017 gab es mehr als 135.000 manipulierte Stimmen in Şanlıurfa. Wenn wir in der Türkei etwas ändern wollen, sollten wir anfangen, unsere Stimmen zu schützen“, erklärt der CHP-Kandidat Çelebi. „Viele sind heute hierher gekommen, um die Stimmabgabe in 3.300 Wahllokalen zu beobachten. Sie sind aus Großbritannien, den USA, Kamerun und der ganzen Türkei gekommen, um als Wahlbeobachter zu arbeiten.“
Zum ersten Mal Angst
Derya C. ist eine der 500 Wahlbeobachter, die nach Şanlıurfa gekommen ist, um sicherzustellen, dass die Wahl fair abläuft. Am Freitagabend nahm sie den Flug von Berlin nach Istanbul, von dort nach Şanlıurfa, insgesamt war sie 12 Stunden unterwegs. „Ich war schon in Istanbul und in Berlin Wahlbeobachterin. Dieses Mal dachte ich, es wäre sinnvoller, die Wahl dort zu beobachten, wo ich etwas ändern kann“, sagt die 28-jährige Studentin. Sponsoren der unabhängigen Wahlbeobachtungsorganisation Sandık Ötesi hätten ihr die Flugtickets von Berlin nach Şanlıurfa gekauft.
In der Nacht vor den Wahlen bleiben Derya und ich lange wach, um die türkischen Wahlgesetze noch einmal zu lesen. Von den Straßen schallt immer noch Erdoğans Wahlkampf-Musik. Zum ersten Mal bekomme ich Angst davor, was am nächsten Tag passieren wird.
Um 6 Uhr morgens sind Derya und ich wie alle anderen Beobachter schon in den Wahllokalen. In dem Wahllokal, in dem ich die Stimmabgabe beobachte, fragen mich die anderen Mitglieder des Wahlkomitees, was ich in Şanlıurfa mache. Sie denken, ich sei Kurdin, aber offensichtlich nicht aus Şanlıurfa. Ich erzähle ihnen, dass ich aus Istanbul komme und hier einen Freund besuche. Mitglieder der CHP hatten mich davor gewarnt, ihnen zu sagen, dass ich aus Berlin komme. Sie könnten denken, dass ich ein Spion sei. Derya und ich haben Glück. Unsere Wahllokale liegen im Stadtzentrum, hier ist es sicher. In den Dörfern ist das anders.
Unsere Wahlbeobachtungsdelegation kommuniziert über eine Whatsapp-Gruppe. Das ist auch eine Sicherheitsvorkehrung für den Fall, dass es in den Wahllokalen zu Zwischenfällen kommt. Die ersten Meldungen aus den Dörfern kommen schon um 5 Uhr morgens. Unabhängige Wahlbeobachter berichten, sie würden nicht in die Wahllokale gelassen. Obwohl es ihr gesetzliches Recht ist, würden die Beamten in den Schulen ihnen nicht erlauben, die Stimmabgabe zu beobachten, schreiben sie. Wenn sie bleiben, bekämen sie Probleme, sagten die Beamten den Wahlbeobachtern zufolge. Einige von ihnen fahren schon ab, da sie die Stadt und die Menschen nicht gut kennen. Aber einige beschließen zu bleiben und die Stimmen zu schützen, egal was kommt.
Wahlbeobachter*innen, die geschlagen werden
Abdullah Şanlı ist einer, der mit seinen drei Freunden aus Istanbul in die Stadt kam, um die Wahl zu beobachten. Seine Freunde und er seien in ihrem Wahllokal geschlagen worden, weil sie bleiben und die Wahl beobachten wollten, schreibt er uns auf Whatsapp.
Sie sind nicht die einzigen. Den ganzen Tag erhalten wir laufend Nachrichten von unabhängigen Wahlbeobachtern, die nicht mehr in ihrem Wahllokal bleiben können, weil es dort nicht mehr sicher sei. Ein Wahlbeobachter schreibt uns auf Whatsapp: “Ihr müsst uns Verstärkung schicken.“ Er sei im Dorf Güzelseven vom Vorsitzenden des Wahlvorstands geschlagen worden, weil er gegen Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe Einspruch erhoben habe.
Um acht Uhr beginnt die Wahl in der ganzen Türkei. Die nächsten Meldungen kommen wieder aus den Dörfern von Şanlıurfa. In der Whatsapp-Gruppe unserer Wahlbeobachtungsdelegation gibt es Berichte von Männern, die versuchen, für ihre Frauen zu wählen, und von Wählern, die auf die Wahlbeobachter einschlagen. Viele Wahlbeobachter melden, dass in den Dörfern eine Person an den Wahlort komme, die für den ganzen Familienclan abstimmen will. In manchen Fällen habe das Wahlkomitee dies zugelassen, obwohl es verboten ist.
Am Wahltag ist “#Urfa“ trending topic bei Twitter. Tausende Menschen setzen unter dem Hashtag #UrfadaOyCaliniyor („Stimmen werden in Urfa gestohlen“) Tweets ab und fordern, die Wahlen dort zu annullieren. Die unabhängige Wahlbeobachtungsorganisation Sandık Gücü in Şanlıurfa empfiehlt den Menschen, ihr Wahllokal zu verlassen, wenn es gefährlich ist.
Menschenrechtsverein dokumentiert Unregelmäßigkeiten
Einem Zwischenbericht des Menschenrechtsvereins Insan Haklari Dernegi (IHD) zufolge stehen im Bezirk Suruç in Şanlıurfa Vorwürfe im Raum, dass ein Parlamentskandidat gemeinsam mit bewaffneten Personen Wähler in verschiedenen Wahllokalen bedroht, Mobiltelefone einkassiert, Wahlhelfer der HDP geschlagen und zur sogenannten gesammelten Stimmabgabe gedrängt habe. In dem Bezirk sollen auch Säcke mit Stimmzetteln außerhalb von Wahllokalen gefunden worden sein, in einem Wahllokal seien Wähler nach Hause geschickt worden, weil es keine Stimmzettel mehr gebe.
Nach der Auszählung der Stimmen gehen die Wahlbeobachter zum Hohen Wahlausschuss (YSK) in Şanlıurfa, um die ausgezählten Stimmen abzugeben. Dort ist es windig und sehr trocken, es sind mehr als 40 Grad. Hunderte Polizisten und Soldaten warten bewaffnet vor dem Gebäude. Die Szenerie erinnert an ein Kriegsgebiet.
Schon als die Stimmen beim Hohen Wahlausschuss abgegeben werden, Stunden, bevor aussagekräftige Ergebnisse vorliegen, feiern die Erdoğan-Unterstützer in Şanlıurfa. Sie feuern mit Schusswaffen in die Luft und schwenken türkische Fahnen. Die ganze Nacht sind Schüsse in die Luft zu hören.
Am Sonntag haben Erdoğan 64 Prozent und die AKP 52 Prozent der Stimmen in Şanlıurfa erhalten. Das sind fast 10 Prozent weniger als beim Referendum im Jahr 2017 (70,8 Prozent Ja-Stimmen). Vielleicht lag es auch an der harten Arbeit der Wahlbeobachter. Am Wahltag kontrollierten Hunderte Wahlbeobachter trotz gefährlicher Bedingungen mit der Hoffnung auf Gerechtigkeit die Stimmabgabe in Şanlıurfa. „Bevor wir hierher kamen, sagten uns alle, dass es dort für uns, drei junge Frauen, sehr gefährlich sei. Wir hätten sogar erschossen werden können, sagten sie“, sagt Derya. Aber die Stadt war nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die Studentin war zum ersten Mal in ihrem Leben in der Osttürkei. “Wir hatten manchmal ein bisschen Angst. Aber wir waren für eine bessere, sichere und gerechte Wahl hier. Die Ergebnisse waren nicht wie erhofft, aber die Hoffnung auf eine bessere, gerechtere Türkei ist immer noch da“, sagt sie.
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