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Nach dem KolonialismusEin Museum als utopischer Raum

Kommentar von Susanne Messmer

Das Grassi Museum für Völkerkunde in Leipzig erfindet sich neu. Es ist ein Role Model für die ethnologischen Museen in Deutschland.

Der Künstler Enotie Paul Ogbebor vor einem seiner Werke, das sich mit den Benin-Bronzen befasst Foto: Jan Woitas/dpa

J etzt haben sie mitten im Museum auch noch eine alte Bierkneipe wiederaufgebaut. „Weißes Roß“ heißt sie, befand sich gleich um die Ecke des Grassi Museums für Völkerkunde in Leipzig, wurde verdrängt und ist nun Teil eines neu eröffneten, eintrittsfreien Wohnzimmers mit angeschlossenem Atelier, wo gespielt und genäht, geschmökert und diskutiert werden darf.

„Es geht uns nicht nur darum, niedrigschwellig zu sein“, sagt Museums­chefin Léontine Meijer-van Mensch. „Wir wollen für die Stadt ein sicherer Hafen werden.“ Im Atelier hat zuletzt das Frauenkollektiv Frauen in Arbeit an verschiedenen Textilprojekten gearbeitet. An der Wand hängen zum Patchwork vernähte Bilder der geballten Faust, dem Logo der Frauenbewegung: Auch in Leipzig war die Zunahme sexua­lisierter häuslicher Gewalt während der Pandemie ein großes Thema.

Am Donnerstag hat das Museum unter dem Titel „REINVENTING GRASSI.SKD“ seine dritte Teileröffnung in diesem Jahr gefeiert. Der Wandel, dem es sich mutig und voller Experimentierfreude unterzieht, wird immer radikaler – hier kann man erfahren, welchen Umbruch Ethnologische Museen in Deutschland derzeit erfahren und wo die Reise bei all jenen hingehen könnte, die sich wie das Ethnologische Museum im Berliner Humboldt Forum aus Angst vor der Leere tendenziell nach wie vor an ihre „Schätze“ krallen.

Dem Grassi geht es längst nicht mehr nur um Objekte, die aus kolonialen Unrechtskontexten stammen. Es möchte darüber hinaus auch wissen, was die brutale Unterwerfung der Welt, die bis heute kaum Teil des Schulunterrichts ist, mit Alltagsrassismus, Migration, mit dem Klimawandel und mit den Kriegen der Gegenwart zu tun hat.

Die Wiederkehr der Benin-Bronzen

Das sieht man auch in anderen neuen Räumen des Grassi, außerhalb von Kneipe und Wohnzimmer. Im März präsentierte es der Öffentlichkeit einen Raum für die berühmten Benin-Bronzen, der ohne die Benin-Bronzen auskommen musste. Der Verbund der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, zu dem das Grassi gehört, hütet mit 262 Exemplaren die zweitgrößte „Sammlung“ der Kunstgegenstände aus dem geplünderten Königspalast von Benin in Deutschland.

Das Grassi hatte entschieden, sie vor der Klärung ihres Verbleibs nicht mehr zu zeigen. Statt dessen ließ es den nigerianische Künstler Emeka Ogboh unter dem Titel „An der Schwelle“ einen abgedunkelten Raum gestalten, in dem Interessierten Fotos von Benin-Bronzen entgegentraten. Haben westliche Be­su­che­r*in­nen das Recht, diese Objekte zu genießen?, fragte das Museum. Und was bewirkt ihr Fehlen im heutigen Nigeria?

Nach dem Beschluss zur Rückgabe der Bronzen im Sommer hat das Museum nicht aufgehört zu fragen. Diesmal hat es dem Künstler und Kurator Enotie Paul Ogbebor das Feld überlassen. Ogbebor hat neben der Installation von Ogboh nur fünf der Bronzen ausgewählt, die bald zurück gehen, vielleicht aber auch noch eine Weile als Leihgabe bleiben könnten.

Außerdem hat er zwei Bilder im Innenhof des Grassi gemalt, die nun neben den Bronzen zu sehen sind. Auf den Bildern flirren die Farben, fast impressionistisch. „Die nigerianische Gesellschaft ist heute sehr vom Christentum beeinflusst“, sagt er. „Darum halten viele die Bronzen für Fetisch.“

Es ist, als habe Ogbebor den Bronzen Leben eingehaucht. Fürs Grassi hat er einen weiteren utopischen Raum geschaffen.

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Redakteurin taz.Berlin
Jahrgang 1971, schrieb 1995 ihren ersten Kulturtext für die taz und arbeitet seit 2001 immer wieder als Redakteurin für die taz. Sie machte einen Dokumentarfilm („Beijing Bubbles“) und schrieb zwei Bücher über China („Peking" und "Chinageschichten“).
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