piwik no script img

Nach Sturz von AssadGegen die Abschiebedebatte

Auch Behörden kritisieren nun den Stopp von Asylverfahren von Syrer*innen. Flüchtlingsrat und Grüne fordern eine Verlängerung des Landesaufnahmeprogramms.

Ein bisschen Freude in unsicheren Zeiten: Auch in Berlin feierten Tausende am Sonntag das Ende des Assad-Regimes Foto: Nicholas Muller/imago

Berlin taz | Die Flaggen, mit denen Sy­re­r*in­nen auch hier den Sturz des Assad-Regimes feierten, sind noch nicht eingerollt, da schleudert ihnen die deutsche Politik schon das große „Aber“ entgegen. Führende Politiker bringen „Abschiebungen“ und „Rückreisen“ ins Gespräch. Und die Bundesinnenministerin ordnet direkt am Montag – ihrem ersten Arbeitstag nach Assads Abgang – an: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) solle Entscheidungen über Asylsuchende aus Syrien erst mal aussetzen. Ihre Begründung: Die Lage in Syrien sei derzeit unklar.

Konkret heißt das, dass die Bamf-Mitarbeiter*innen die Anträge von syrischen Asylsuchenden bis auf Weiteres ganz unten einsortieren. Der Leiter der Ausländerbehörde und zentralen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge im brandenburgischen Eisenhüttenstadt, Olaf Jansen, findet das falsch. „Ich halte das ehrlich gesagt für die zweitbeste Entscheidung, um es mal höflich auszudrücken – also keine gute Idee“, sagte er am Mittwoch in einem Interview mit dem RBB. „Es geht hier nicht um ein paar hundert, sondern um mehrere zehntausend Fälle.“

Jansen erklärte, dass sich so ein riesiger Rückstau aufbaue. Das Bamf werde sich damit auch einen Haufen zusätzlicher Arbeit einhandeln. Denn Asylsuchende könnten die Behörde wegen Untätigkeit verklagen. „Und diese Klagen wird das Bamf dann reihenweise verlieren. Das kostet ein Vermögen“, sagte er. Sinnvoller wäre, weiterhin die Asylbegehren der ankommenden Menschen zu prüfen und bei vulnerablen Gruppen auch Schutz auszusprechen.

Letztlich seien selbst Ablehnungen für die Betroffenen besser als Untätigkeit der Behörden. Denn gegen negative Entscheidungen könnten sie dann klagen, „und dann entscheiden Gerichte, ob das gerechtfertigt war“, erläuterte der Behördenleiter. Er findet: Alles sei besser, als Betroffene im Unbestimmten zu halten. Aus seiner Sicht offenbare sich in der Entscheidung ein fatales „Stillstandsdenken“, das eher „Probleme kultiviere“, anstatt Chancen wahrzunehmen. „Die Menschen sind alle erleichtert, dass das Regime verschwunden ist. Ansonsten sind sie aber darauf fokussiert, dass sie in Deutschland ankommen und sich hier gegebenenfalls auch eine Zukunft aufbauen können“, so Jansen.

Berlin nimmt weiter auf

Berlins Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) wollte die Entscheidung des Bundesamts am Mittwoch nicht direkt kommentieren. „Die Leute, die hier ankommen, nehmen wir auf“, sagte ein Sprecher auf Nachfrage der taz. „Das ist die gesetzliche Grundlage, und daran ändert auch die Entscheidung des Bamf nichts“, sagte er.

„Unser Grundgesetz und auch die Genfer Flüchtlingskonvention sichert jedem Menschen ein Anrecht auf die individuelle Prüfung ihres Asylgesuchs zu“, teilte ein Sprecher der Senatsverwaltung für Soziales mit. „Das bedeutet für uns: Wenn Menschen aus Syrien aktuell in Berlin ankommen und Asyl beantragen, haben sie ein Recht auf ein Asylverfahren, welches das Bamf durchführt.“ Während dieser Zeit werde die Behörde die Menschen unterbringen. „Durch das momentan festgelegte Aussetzen kann es allerdings zu längeren Asylverfahren kommen“, sagte der Sprecher. Es sei derzeit unklar, wie sich „dynamische Entwicklungen in Syrien“ auf Berlin auswirken könnten.

„Ich finde die Debatte widerlich“, sagt Enad Altaweel, Sprecher für Vielfalt und Antidiskriminierung der Berliner Grünen. „Wie unempathisch und würdelos, einen Tag später von Abschiebungen zu sprechen. Das schürt Angst und eine rassistische Stimmung.“ Altaweel ist selbst 2016 aus Syrien nach Berlin gekommen und hat sich im vergangenen Juni einbürgern lassen.

„Es sieht derzeit auch nicht danach aus, dass die HTS die Minderheiten in Syrien schützt. Im Gegenteil, die Nachrichten aus dem Nordosten von Syrien sind sehr besorgniserregend“, sagt er. Die Debatte sei ein fatales Signal an die hier lebenden Sy­re­r*in­nen – und die Deutschen mit syrischem Hintergrund. „Was macht das mit Kindern, wenn sie das hören?“, fragt er. „Bei dieser Debatte schäme ich mich für meine neue Heimat. Ich wünsche mir mehr Empathie und Menschlichkeit für Deutschland.“

Sichere Fluchtwege gefordert

Altaweel fordert im Gegenteil, dass Berlin gerade jetzt das Landesaufnahmeprogramm für Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan und Irak verlängern müsse. Regulär würde es Ende Dezember auslaufen. Mit dem Landesaufnahmeprogramm können Menschen direkt nach Berlin einreisen, wenn sie Verwandte in Berlin haben, die für ihren Unterhalt aufkommen. Das Programm gibt es für Syrien bereits seit rund zehn Jahren. Altaweels Schwester ist darüber vor zwei Jahren nach Berlin gekommen. „Sichere Fluchtwege sind weiterhin absolut notwendig“, sagt er. „Das Landesprogramm ist ein Weg, um sie zu ermöglichen.“

Der Flüchtlingsrat Berlin hatte den Bamf-Entscheidungsstopp bereits am Montag kritisiert. Die Menschen bräuchten weiterhin Rechtssicherheit bezüglich ihrer Verfahren. Die Initiative forderte die Senatsverwaltung für Finanzen auf, die Aufnahmeregelung aus dem Landesprogramm für Menschen, deren Verwandte in Berlin für sie bürgen könnten, endlich freizugeben. Dieser Regelung hätten die Senatsverwaltungen für Inneres und für Soziales bereits zugestimmt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Auf welcher Grundlage wollen die im Artikel benannten Behörden die Asylanträge den prüfen? Schutzgrund ist ein Bürgerkrieg bzw. ein Diktaturregime. Beides könnte zu Ende sein.

    Klage wegen Untätigkeit sind erfolgreich, wenn diese unbegründet sind. Die jetzt notwendige Neubewertung der Lage ist jedoch eine zulässige Begründung.

    Ein Rückstau wäre zu befürchten, wenn die Behörden jetzt untätig blieben. Allgemein dürfte anzunehmen sein, dass auch noch eine ganze Reihe andere Akten mit Bewerbern aus anderen Ländern vorhanden sein dürften. Wo sollte sich da ein Rückstau bilden?