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Nach Anschlag bei MoskauDie Spur zum „Islamischen Staat“

Der Kreml spricht weiter von ukrainischer Verstrickung, obwohl sich der IS direkt nach dem Anschlag bekannt hat. Was sagen Dschihadismus-Expert:innen?

Blumen als Zeichen der Trauer vor der Crocus City Hall nach dem Anschlag im Moskauer Vorort Krasnogorsk Foto: Maxim Shemetov/reuters

Auch drei Wochen nach dem Anschlag auf die Crocus City Hall nahe Moskau sind die Hintergründe unklar. Zwar übernahm die Zentrale des Islamischen Staats (IS) direkt am 22. März, dem Tag des Anschlags, die Verantwortung dafür. Aber auch ein zweites Statement ihrer Medienabteilung Amaq am Folgetag war so wenig detailliert, dass viele Ex­per­t*in­nen an deren Urheberschaft zweifelten.

Zwischen 2017 und 2019 hatte die IS-Zentrale das von ihr kontrollierte Territorium in Syrien und Irak verloren und agiert seither aus dem Untergrund. Der dänische Dschihadismus-Experte Tore Hamming vermutet sie irgendwo im Grenzgebiet des kurdisch kontrollierten Nordostsyriens und der Südosttürkei. Für den Anschlag des 22. März richtet sich der Verdacht auf eine der sogenannten Provinzen der Gruppe, die in ihren jeweiligen Regionen relativ autonom agieren.

Für Russland war im IS bis dahin eine separate Kaukasus-Provinz „zuständig“, dieses Mal geht es nun um die vor allem in Afghanistan und Pakistan aktive IS-Khorasan-Provinz (ISKP). Khorasan ist eine Bezeichnung für die iranischsprachigen Gebiete Zen­tral­asiens.

Drei Tage nach dem Anschlag verbreitete der ISKP über seinen eigenen Medienflügel al-Azaim ein 30-seitiges Onlinepamphlet. Auch das enthält keine Details zum Moskauer Anschlag. Dieser werde darin zwar ausführlich „gefeiert“, sagt der in Schweden arbeitende afghanische IS-Experte Abdul Sayed der taz, vermeide aber ein direktes Bekenntnis.

Schreiben kommt Bekenntnis nahe

Das bedeute jedoch nicht, dass die Gruppe nicht daran beteiligt gewesen sei, so Sayed. Im Pamphlet wird der Anschlag als Rache für den Tod von IS-Kämpfern durch russische Angriffe in Syrien bezeichnet. Russland unterstützt dort das mit Iran verbündete Regime von Baschar al-Assad. Irans und Syriens Regime werden von Schiiten dominiert, die der IS als abtrünnige Muslime betrachtet.

Das Schreiben geißelt auch die in Afghanistan herrschenden Taliban wegen ihrer engen Beziehungen zu Russland und verhöhnt sie, dass sie ihre Verpflichtung gegenüber den USA nicht erfüllen, von ihrem Land ausgehende Terrorangriffe im Ausland zu verhindern. Das kommt einem Bekenntnis zum Moskauer Anschlag schon sehr nahe. Auch die US-Geheimdienste sehen den ISKP hinter der Tat.

Bei den vier angeblichen Tätern, die von russischen Behörden mit Spuren schwerer Misshandlungen vor Gericht präsentiert wurden, und anderen verhafteten Helfershelfern, handelt es sich um Bürger Tadschikistans, die Gastarbeiter in Russland waren. Niemand in der Ex­per­t*in­nen­sze­ne zweifelt bisher daran, dass die vier mit den Tätern identisch sind.

Zudem gab der IS inzwischen zu, dass die tatsächlichen Attentäter gefasst wurden, „nachdem sie in einem Wald umzingelt worden waren“. Das deckt sich mit russischen Angaben. Ein tadschikischer Kontakt, der sich von Terroristen per Bodycam verbreitetes Videomaterial vom Anschlag ansah, bestätigte der taz, dass sie darin im Dialekt der Landeshauptstadt Duschanbe sprechen.

Restzweifel bleiben

Dennoch bleiben Restzweifel. Der in Washington arbeitende Zentralasien-Experte Bakhti Nishanov postete im Kurznachrichtendienst X eine Mitteilung des tadschikischen Außenministeriums vom Tag nach dem Anschlag, der zufolge sich zwei der von Russland Beschuldigten seit November in Ta­dschi­kistan aufhielten.

Seither bleibt Duschanbe diesbezüglich allerdings still. Die Behörden des hochgradig von Russland abhängigen Landes kooperieren mit Moskau. Laut einer offiziellen russischen Nachrichtenagentur nahmen sie Ende März neun weitere Verdächtige fest, die mit dem Moskauer Anschlag in Verbindung stehen sollen.

51 Prozent von Tadschikistans Bruttosozialprodukt stammen aus Geldüberweisungen von Arbeitsmigranten, geschätzt leben mindestens 1,5 Millionen Ta­dschi­k:in­nen in Russland. Viele haben inzwischen die russische Staatsangehörigkeit angenommen, aber sie sind dort oft Diskriminierung ausgesetzt. Einige könnten deshalb anfällig für dschihadistische Online-Anwerbung sein.

Die tadschikischen Anschlagsverdächtigen führen auch zur ISKP-Spur. Der 2015 gegründeten Gruppe schlossen sich zunächst vor allem in Guantánamo radikalisierte afghanische Taliban-Kommandeure an. Nachdem sie freikamen, lehnten sie die Verhandlungen ihrer Führung mit den USA ab. Fast alle wurden mittlerweile durch Nato-Luftschläge getötet. Übrig blieb der ISKP im pakistannahen Osten Afghanistans.

Dort kam es zu einem Zustrom von pakistanischen Taliban und Mitgliedern anderer antischiitischer Terrorgruppen. Viele davon gelten als vom pakistanischen Geheimdienst unterwandert, wenn auch nicht kontrolliert. Der ISKP schlägt auch in Pakistan zu. Bei einem der größten Anschläge dort in jüngerer Zeit wurden im Juli 2023 im Distrikt Badschaur 44 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt.

Seit 2020 wird die Gruppe vom heute 29-jährigen afghanischen Tadschiken Sanaullah Ghafari geführt. Er soll sich in Pakistans Provinz Belutschistan aufhalten. Dort operieren mehrere Separatisten- und Terrorgruppen, unter anderen das iranische Dschaisch ul-Adl (Heer der Gerechtigkeit). Iran macht es für zwei Anschläge um den Jahreswechsel verantwortlich. Ob Dschaisch ul-Adl und ISKP kooperieren, ist jedoch unklar.

Taliban haben ISKP geschwächt

In Afghanistan gehen die Taliban seit ihrer Machtübernahme im August 2021 rabiat gegen den ISKP und das salafistische Milieu, aus dem er sich rekrutiert, vor und haben die Terrorgruppe erheblich geschwächt. Deshalb vermuten viele Expert*innen, der ISKP weiche auf Anschläge im Ausland aus und rekrutiere dafür gezielt Zentralasiaten. Zuletzt verbreitete er verstärkt dschiha­dis­tisches Onlinematerial auf Tadschikisch.

Schon in Syrien, so Zentralasien-Experte Edward Lemon vom Forschungsnetzwerk Oxus Society, stellten Tadschi­ken im IS die drittgrößte Gruppe, gemessen an der Bevölkerungszahl der Herkunftsländer.

Dass der IS mit Hilfe radikalisierter Einheimischer Anschläge im Ausland durchführt, zeigten die Terroranschläge im Jahr 2015 auf die Konzerthalle Bataclan und am Stade de France in Paris. Auch in Deutschland scheinen vom IS beeinflusste Tadschiken an Anschlagsvorbereitungen beteiligt gewesen zu sein.Entsprechende Verhaftungen gab es im Juli dieses Jahres und im Dezember, wegen des Verdachts auf Attentatspläne auf den Kölner Dom.

Nach der Zerschlagung des IS-Territorialstaats in Syrien und Irak ist dessen Zentrale nun daran interessiert, als Drahtzieher für Anschläge wie jenen in Moskau und so weiterhin als potenter dschihadistischer Akteur wahrgenommen zu werden.

Dafür schuf er 2015 das „Generaldirektorat für die Provinzen“, das neuerdings weltweit für die gesamte Planung und Durchführung von „Auslandsoperationen“ und die Geldbeschaffung für regionale IS-Ableger und Einzelkämpfer verantwortlich sei, so der Dschihadismus-Experte Hamming. Das könnte die Zurückhaltung der ISKP-Medien erklären, sich direkt zum Moskauer Anschlag zu bekennen.

ISKP bekannte sich zu zwei Anschlägen im Januar

Die Dschihadismus-Expertin der BBC, Mina al-Lami, wies darauf hin, dass der ISKP sich auch nicht zu zwei Anschlägen im Januar bekannt habe: auf die Trauerfeier für einen General der Revolutionsgarden im iranischen Kerman mit 95 Toten und auf eine Kirche in Istanbul, wo ein Mann erschossen wurde. Laut des IS-Experten Abdul Sayed werden die Anschläge von Moskau und Kerman auch in einer IS-Erklärung aus Anlass des bevorstehenden 10. Jahrestags der Proklamation des Kalifats im Juni nicht dem ISKP zugeschrieben.

Trotzdem, so Ashley Jackson, Co-Direktorin der Forschungsgruppe Centre on Armed Groups mit langjähriger Afghanistan-Erfahrung, müsse man weiterhin zwischen ISKP-Aktionen im Ausland und in der Herkunftsregion differenzieren. Anschläge im Ausland würden nicht von den Mitgliedern in Afghanistan geplant und ausgeführt – die seien „mit den Taliban beschäftigt“. Das belegt auch ein Anschlag in Kandahar, der einen Tag vor dem Anschlag in Moskau stattfand, und bei dem ein IS-Selbstmordattentäter 21 Menschen tötete und mehr als 50 verletzte.

„Wir werden im Ausland vermehrt zentralasiatische Dschihadisten sehen, so Jackson. „Wir haben solide Analysen über ISKP in Afghanistan und Pakistan“, fügt sie hinzu. Aber was, fragt Jackson, „wissen wir wirklich über ihren Fußabdruck hinaus“ – und darüber, wie ISKP und die Zentralasiaten interagieren?

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