Nach Anschlag bei Moskau: Ein Land im Dunkeln
Blumenberge und stillgelegte Innenstädte: Russland befindet sich nach dem Terroranschlag in Schockstarre. Szenen der Trauer aus St. Petersburg.
Ein älteres Ehepaar kommt mit einem Strauß roter Nelken aus einem nahe gelegenen Blumenladen. Am U-Bahn-Eingang legen die beiden dann noch einen Spielzeugbären auf den Blumen ab und ein Schild mit der Aufschrift „Sankt Petersburg trauert mit dem ganzen Land“. Lange Zeit stehen sie schweigend da und blicken ins Leere.
Zuletzt wurden jeweils am 3. April Blumen an diesen Ort in der Nähe der U-Bahn gebracht. Vor sieben Jahren sprengte sich in der Nähe ein Selbstmordattentäter in einem Zug in die Luft. 17 Menschen starben, rund 50 wurden verletzt. Doch an diesem Samstag trauern die Menschen auch um die Opfer des Terroranschlags am Freitagabend auf das Veranstaltungszentrum Crocus City Hall bei Moskau. Dabei wurden mindestens 137 Menschen getötet.
Solche kleinen Gedenkstätten sind jetzt an verschiedenen Orten in Sankt Petersburg entstanden: Menschen bringen Blumen, Süßigkeiten und Spielzeug zu historischen Denkmälern und sogar vor die Nationalbibliothek. Die Plakatwerbung ist den traurigen Bildern einer brennenden Kerze auf schwarzem Hintergrund gewichen. Überall sind sie zu sehen: in der U-Bahn, über Autobahnen, an Böschungen, in Autowaschanlagen und im Schaufenster eines Blumenladens.
Trauertag am Sonntag
In der Stadt sind Theater und Kinos geschlossen, Konzerte wurden abgesagt. Straßenmusiker sind verschwunden. Die Stadt, das Land sind in Dunkelheit versunken. Am Sonntag begeht Russland einen nationalen Trauertag. Gespräche in Chats, sei es mit Freund*innen oder Arbeitskolleg*innen, drehen sich seit Freitag um ein und dasselbe Thema: Alle schicken sich ununterbrochen Nachrichten zu, ohne genau zu verstehen, warum eigentlich. Doch niemand will mit diesem Albtraum allein sein. Obwohl alle am liebsten schweigen würden, ist es unmöglich, nicht zu sprechen.
„Nachts konnte ich mich nicht von den Nachrichten losreißen, bis mir mein Mann mein Handy wegnahm“, schreibt eine Freundin. „Und heute schauen wir die Serie ‚Taxi‘. Da geht es um das schöne Paris, es werden so viele dumme stereotype Witze gemacht. Mir geht es sehr schlecht, aber vielen Menschen geht es noch viel schlechter.“
Eine Szene vor circa einer Woche in der Petersburger U-Bahn: Da sitzt eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn, etwa acht Jahre alt. Der Junge hört einer Durchsage zu, in der die Leute aufgefordert werden, auf verdächtige Gegenstände zu achten, die unbeaufsichtigt sind. Eine Standardwarnung, die man seit vielen Jahren in der U-Bahn gesagt bekommt.
Der Junge fragt, warum das gefährlich sein könnte. Seine Mutter erklärt ihm, dass sich in einer abgestellten Tasche möglicherweise Sprengstoff befinden könne, versucht ihn aber sofort zu beruhigen: „Terroranschläge gab es schon lange nicht mehr. Wir müssen vorsichtig sein, sollten uns aber nicht zu viele Sorgen machen.“ Die Frau hat, wie wir jetzt leider wissen, falschgelegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles