NSU-Tribunal im Schauspiel Köln: „Ich fühle mich so schuldig“

Fünf Tage lang klagt das erste NSU-Tribunal an: laut und präzise. Nach viel Recherche werden Agenten, Neonazis und Politiker der Beihilfe beschuldigt.

Ein Mann spricht in einem dunklen Raum vor Menschen in ein Mikrofon

Der ehemalige Vorsitzende der IG Keupstraße, Mitat Özdemir, spricht beim „Tribunal NSU-Komplex auflösen“ Foto: dpa

Beate Zschäpe wälzt sich schluchzend auf dem Boden. „Unschuldige Menschen sind gestorben! Ich fühle mich so schuldig, dass ich nicht in der Lage war, auf Uwe Mundlos entsprechend einzuwirken“, ruft sie tränenerstickt. Und referiert gleich darauf, dass im Gefängnis das Haare tönen ein Schnäppchen ist.

Schauspielerin Lucia Schulz schafft es auf der Bühne des Depot 1 im Schauspiel Köln sehr schön, die Einlassungen der Hauptangeklagten wortgetreu wiederzugeben und dabei ihre Scheinheiligkeit vorzuführen. Die Inszenierung „A wie Aufklärung“ des Kölner Nö-Theaters bringt die Absurdität der NSU-Aufarbeitung auf den Punkt – laut, schrill, bösartig und präzise. Die Performer spielen nach, wie Akten geschreddert und Beweismittel abtransportiert wurden, fünf Zeugen angeblich einfach so starben. Aber kann man mit Theater dem NSU-Komplex überhaupt angemessen begegnen?

Das Schauspiel Köln, in direkter Nachbarschaft der Keup­straße gelegen, wo 2004 das NSU-Nagelbombenattentat verübt wurde, arbeitet schon lange daran, das Trauma der Straße aufzuarbeiten. Etwa mit Stücken wie „Die Lücke“, in der Anwohner selbst auf die Bühne kamen. Für das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ hat es allerdings nur die Infrastruktur bereitgestellt und den eigenen Spielbetrieb unterbrochen.

Rund zwei Jahre lang haben rund hundert Aktivisten, Künstler und Antifa-Gruppen ein selbst­organisiertes Gegentribunal vorbereitet, das den bisherigen Prozessen und Untersuchungsausschüssen zum NSU noch etwas zur Seite stellt. So etwas gab es in Deutschland bislang noch nicht – hat aber als prominentes historisches Vorbild die „Russell-Tribunale“ , wie die Pariser Historikerin Chowra Makaremi am ersten Abend erläutert: Bereits 1966 rief der britische Philosoph und Literaturnobelpreisträger Bertrand Russell Gegengerichte ein zur Untersuchung der US-Kriegsverbrechen in Vietnam, seitdem wurden so Unterdrückung in Brasilien, der Irakkrieg, der Nahostkonflikt bearbeitet.

Es gab sogar einen noch früheren Vorläufer: Als 1933 der Reichstag brannte, organisierte der deutsche Verleger und Kommunist Willi Münzenberg noch vor dem Berliner NS-Fake-Prozess in London ein Gegentribunal. Kritik indes gab es an der selbstorganisierten Justiz, die vor allem Gegenöffentlichkeit schaffen will, allerdings auch immer wieder: sowohl an der Einseitigkeit der angerufenen Zeugen als auch an den Ergebnissen, die stets im Voraus festzustehen schienen.

NSU-Recherche auf eigene Faust

Das ist in Köln auch nicht anders, verstört darum aber auch nicht weniger: das akribisch zusammengetragene Recherchematerial zeigt, wie Deutschland durchzogen wird von einem absolut gewaltbereiten und immer aktiveren rechtsradikalen Netz.

Eindrucksvoll wird das belegt von Gruppen wie „NSU Watch“, die beim Tribunal täglich die neuesten Ergebnisse zusammenfassen und einen neuen Überblick geben über bereits bekannte beklemmende Beweisvernichtungen und Verschleierungen, Aktenschredderungen und Verfassungsschutz-Verstrickungen.

Auch ein Workshop der Jugend-Gerichtswerkstatt „TRAFO“ aus Chemnitz demonstriert das eindrücklich: Angeleitet durch Streetworker und unterstützt durch das Kulturbüro Sachsen, treffen sich hier regelmäßig Jugendliche und erforschen auf eigene Faust, wo das NSU-Trio untertauchte, zeichnen ihre Wege nach, interviewen die Bankangestellten, die damals überfallen wurden, und kommen zu ganz eigenen Ergebnissen. Darüber etwa, wie frei sich Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe im „Untergrund“ in Chemnitz bewegen konnten und dass das erbeutete Geld noch nicht einmal ausreichte, ihre Urlaube zu bezahlen. Wie aber wurden sie sonst finanziert?

Wie soll eine Zivilgesellschaft die Lücke aushalten – zwischen der immer offensichtlicher werdenden Realität des NSU-Netzwerks und seiner unzureichenden juristischen Aufarbeitung?

Vieles erinnert an den fünf Tagen in Köln mehr an einen Kongress als an ein Tribunal. Auch mit inszenierten Kunst-Gerichtsprozessen, wie sie etwa der Theatermacher Milo Rau mit den „Moskauer Prozessen“ oder dem „Kongo Tribunal“ veranstaltete, hat es wenig zu tun. Panels, Workshops, Theaterstücke, Ausstellungen und Vorträge kreisen um die Frage: Wie soll eine Zivilgesellschaft die Lücke aushalten – zwischen der immer offensichtlicher werdenden Realität und Gewaltbereitschaft des weitreichenden NSU-Netzwerks und seiner absolut unzureichenden juristischen Aufarbeitung am Oberlandesgericht München, wo nur fünf Personen oder eine einzige „Terrorzelle“ angeklagt sind?

Opferfamilien eine Stimme geben

„Es geht auch um einen Perspektivwechsel: die Opferfamilien sollen eine Stimme erhalten – die sie viel zu oft nicht haben, wenn in München die Beweisanträge der Nebenkläger abgelehnt werden“, sagt Sprecher Tim Klodzko. So hat hier etwa Özcan Yıldırım, Besitzer des durch die Nagelbombe getroffenen Friseursalons, heftig zitternd einen seiner seltenen öffentlichen Auftritte. Er kann davon Zeugnis ablegen, wie sehr es ihn nachhaltig verstört hat, erst knapp entkommen und dann selbst verdächtigt zu werden. Dass die Akten jetzt offiziell geschlossen ist, ist ein neuer Schlag: „Die Wunde kann so nicht geheilt werden“, sagt er.

„Mittlerweile habe ich meinen Friseursalon nur noch zum Hinterhof geöffnet und spiele mit dem Gedanken, in die Türkei zurückzugehen“. Yıldırıms Trauma ist deutlich sichtbar – und wird hier in einen weiten Kontext rechtsradikaler Gewalt gestellt. Selbst ehemalige DDR-Migranten kommen zu Wort. Während die Mutter des 1982 von einem Skinhead-Mob ermordeten Terik Güvel spricht, muss eine Dame im Kopftuch schluchzend aus dem Saal geführt werden.

Das Tribunal ist mehr eine vielstimmige politische Intervention als eine künstlerische Inszenierung. Dennoch ist den Organisatoren die Kunst dabei extrem wichtig: Von einem „Resonanzraum“ spricht auch der Kölner Filmemacher und Mitorganisator Daniel Poštrak: „Kunst kann die Geschichten der Betroffenen nochmal auf anderer Ebene einer Öffentlichkeit zur Verfügung stellen.“

Die Grenze zwischen Kunst und Aktivismus überschreitet auch Forensic Architecture, eine Gruppe aus Architekten, Künstlern und Filmemachern der Londoner Goldsmith University. Was 2011 ästhetisch begann, ist längst politisch geworden: sie forschen etwa zu Kriegsverbrechen in Syrien oder Palästina. Die Organisatoren des Tribunals haben sie beauftragt, den Fall Andreas Temme weiter zu untersuchen. Temme ist der Verfassungsschützer, der beim letzten dem NSU zugeschriebenen Mord auf Halit Yozgat am Kassler Tatort war.

Neunzig Namen werden darin genannt

Mit Kameras und Computertechnik, Geräuschen und Virtual Reality stellte Forensic Architecture bereits im April Schüsse und Wege der Zeugen nach. Während des Tribunals in Köln zeigen sie neueste Ergebnisse: im Depot 1 wies Gründer Eyal Weizman erstmals durch die Computer Log-ins nach, dass Temme den Mord direkt gesehen, gehört oder sogar begangen haben muss. Weizman füllte das bisher ungeklärte Zeitloch von 40 Sekunden im Tat-Ablauf: „Wir haben wieder und wieder alle Möglichkeiten re-enactet – und es ist eindeutig, dass die Summe aller Aktionen nur zulässt, dass Halit Yozgat und Andreas Temme gemeinsam im Raum gewesen sind“, sagt er.

Obwohl Forensic Architecture schon seit Jahren als Gutachter in internationalen Gerichten hoch gefragt sind, wurden sie vom Münchener Gericht nicht eingeladen. „Die deutsche Zivilsgesellschaft und Legislative muss selbst entscheiden, was sie mit diesen Ergebnissen macht – wir weisen anhand öffentlich zugänglicher Informationen nur nach, was gewesen ist“, sagt Weizman.

Am Ende soll es beim Kölner NSU-Tribunal aber nicht nur um das Zusammentragen von Fakten gehen, nicht nur um das Schaffen einer demokratischen Gegenöffentlichkeit – sondern auch um eine Anklage. Bis Samstagabend um 23 Uhr wurde die Schrift von 67 Seiten penibel unter Verschluss gehalten und schließlich veröffentlicht: Neunzig Namen werden darin genannt, es sind bekannte Neonazis, Geheimdienstler, V-Leute, aber auch hochrangige Beamte, Politiker und Journalisten darunter – zum Beispiel auch die Spiegel-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen. „Wir hätten auch 500 Namen aufschreiben können“, so Tim Klodzko.

Lücke geschlossen

Angeklagt wird auch Angela Merkel. „Als Bundesministerin für Frauen und Jugend hat sie Anfang der 1990er Jahre das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit propagiert“, heißt es in der Schrift – ein Großteil der Jugendclubs in den neuen Bundesländern sei fortan zur effizienten Infrastruktur militanter Neonazis geworden.

Nach fünf Tagen NSU-Tribunal in Köln bleibt der Eindruck: hier wurde in einer immensen zivilgesellschaftlichen Anstrengung eine Lücke geschlossen zwischen der Realität und der Kapazität eines Gerichts. Mit Theater und Inszenierung hat das direkt nichts zu tun. Und zeigt dennoch, wie auch mit Hilfe von Kunst demokratische Gegenöffentlichkeit geschaffen werden kann. Die Errichtung einer unabhängigen Untersuchungsinstitution, wie beim Kongress lautstark gefordert, scheint überfällig.

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