Myanmar nach dem Militärputsch: Zurück auf null
Myanmar befindet sich seit dem Militärputsch im Februar im freien Fall. Die Minderheit der Karen führt den Kampf gegen das Militär fort – an der thailändischen Grenze.
V iel zu viel Gepäck“, murmelt Nimrod Andrew, als er einen großen Plastikbeutel auf die Rückbank seines Autos hievt. Dann wendet er sich der älteren Frau zu. Sie habe Reis und Nudeln gefrühstückt, erzählt sie. Es hilft ja nichts, Smalltalk muss sein. Die Frau trägt einen typisch myanmarischen Wickelrock und ein weites T-Shirt. Darauf ist die Rede von Frieden und Demokratie.
Seit ein paar Tagen ist die Frau auf der anderen Seite der Grenze, in Thailand, und damit endlich außer Gefahr. Ein Mitglied ihrer Familie ist ein prominenter Oppositioneller in Myanmar, deswegen konnte sie nicht länger in Myanmar bleiben. Wie sie in den Grenzort Mae Sot kam und was jetzt aus ihr wird, darum kümmert sich nun Andrew. Solche Aufgaben sind seine alltägliche Mission, aus Sicherheitsgründen arbeitet er im Geheimen.
Nimrod Andrew, Mitglied der KNU
Der 39-Jährige ist ein Netzwerker und einer, der viel arbeiten kann. In der Karen National Union (KNU), der politischen Organisation von Myanmars Karen-Minderheit, die an der Grenze zu Thailand lebt, arbeitet er als rechte Hand der Führungsriege. Obwohl er inzwischen einen kanadischen Pass hat, verbringt er die meiste Zeit in Mae Sot, einem 50.000-Einwohner-Grenzort, der seit Jahrzehnten durch Handel, Flüchtlinge und Arbeitsmigranten von seinem Nachbarland Myanmar geprägt ist.
Als Andrew im Januar nach Thailand kam, hatte er noch keine Ahnung davon, dass die Generäle Myanmars der Demokratisierung – und damit auch seiner Mission, Frieden zu schaffen – mit einem Putsch ein Ende bereiten würden. „Das ist wie mit Beziehungen“, sagt er, als er sein Auto durch Mae Sot steuert, „eines Tages findest du raus, dass alles nur Fake war.“
Offenbar nicht genug
Dabei hätten die Militärs ja alles gehabt: Ein Viertel der Sitze im Parlament war ihnen garantiert, wichtige Ministerien blieben unter Kontrolle der Generäle und mit der Demokratisierung wurden endlich auch die ausländischen Sanktionen aufgehoben. Die Generäle wurden im Westen hofiert – auch in Deutschland. Doch das alles war der machtgierigen Institution offenbar nicht genug.
Als die Nationale Liga für Demokratie (NLD) unter Führung von Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi im vergangenen November erneut einen Erdrutschsieg einfuhr, war das für Militärchef Min Aung Hlaing offenbar zu viel. Im Juli hätte er wegen einer Altersbegrenzung sein Amt als Oberkommandierender niederlegen müssen. Dem 65-Jährigen wurden schon länger Ambitionen auf das Präsidentenamt nachgesagt. Und so warf er der NLD einfach Wahlbetrug vor. Im Morgengrauen des 1. Februar schwirrten im ganzen Land Trucks des Militärs aus, um die vom Volk gewählten Politiker und Aktivisten zu verhaften.
Seitdem befindet sich Myanmar in freiem Fall. Landesweite Proteste wurden brutal niedergeschlagen. Menschenrechtsorganisationen zufolge hat die Junta mehr als 900 Menschen getötet. Fast 7.000 sind seit Februar verhaftet worden – Soldaten schrecken dabei noch nicht einmal vor Kindern zurück. Es herrscht längst wieder Angst in Myanmar, so wie in alten Zeiten, als die Generäle das südostasiatische Land als eine Diktatur regierten.
Die hart erkämpften demokratischen und wirtschaftlichen Fortschritte des vergangenen Jahrzehnts wurden nach dem Coup innerhalb kürzester Zeit zunichte gemacht. Millionen Menschen sind in die Armut abgerutscht, Investoren haben sich zurückgezogen, Journalisten sind wieder im Exil. Weil das Gesundheitssystem kollabiert ist, fegt das Coronavirus ungehindert durch die Bevölkerung.
Gefasste Ernüchterung
Andrew hat den Putschanführer Min Aung Hlaing in der Vergangenheit bei Friedensverhandlungen getroffen. Dort hielt man Andrew, den Karen, wegen seines inzwischen verkümmerten Burmesisch anfangs für einen ausländischen Berater, erzählt er amüsiert. Er hatte echte Hoffnung, dass die Generäle es ernst meinten mit der Demokratisierung. An die Stelle der Hoffnung ist gefasste Ernüchterung getreten. Und viel Arbeit.
Denn Myanmar ist jetzt ein völlig anderes Land. Teilweise hat Andrew heute drei verschiedene Bildschirme vor sich, um sich mit den verschiedenen neuen Playern in Myanmar zu koordinieren. Seit dem Putsch hat sich eine vibrierende Landschaft an Oppositionskräften herausgebildet. Die entmachtete NLD hat eine Exilregierung gegründet, die in das Gebiet unter der Kontrolle der Karen geflohen ist.
Andrew weiß, was es heißt, seine Heimat verlassen zu müssen. Er war selbst einmal Flüchtling. Als Kind schickten seine Eltern ihn über die Grenze nach Thailand in Sicherheit. Denn in seinem Heimatstaat Karen herrschte Krieg. Die Soldaten des Militärs zündeten Dörfer an, vergewaltigten Frauen und schossen auf alles und jeden. Die Bilder wiederholten sich später bei der Vertreibung der muslimischen Minderheit der Rohingya vor ein paar Jahren. Andrew wuchs in einem thailändischen Flüchtlingslager auf, bis er als junger Mann nach Kanada emigrieren konnte. Die Lager gibt es immer noch. Mehr als 90.000 Menschen aus Myanmar fristen dort seit Jahrzehnten ihr Dasein, darunter auch Angehörige von Andrews Familie.
Die thailändische Regierung hatte in den vergangenen Jahren die Schließung der Camps vorbereitet. Hilfsorganisationen waren nach Myanmars ersten als demokratisch anerkannten Wahlen 2015 nach Myanmar weitergezogen. Doch statt Menschen dorthin zurückschicken zu können, befürchtet die thailändische Regierung nun eine neue Flüchtlingswelle.
Thailand hält sich zurück
Weil Thailand selbst von einer Militärregierung geleitet wird, die sich 2014 an die Macht geputscht hat, hält man sich zurück mit Kritik an dem Coup im Nachbarland. Auf wessen Seite die Regierung steht, wurde spätestens klar, als Soldaten der Tatmadaw – so der Name des myanmarischen Militärs – im April Warnschüsse auf ein Boot im Grenzfluss Salween abgaben, in dem Männer des thailändischen Grenzschutzes saßen.
Ein Regierungssprecher nannte den Vorfall daraufhin in vorauseilendem Gehorsam ein „Missverständnis“. Die Grenzschützer seien nun einmal nicht als solche zu erkennen gewesen. Als thailändische Dörfer in unmittelbarer Nähe der Grenze unter Beschuss des myanmarischen Militärs gerieten, sorgte das in der Hauptstadt kaum für Reaktionen. Das Verhältnis zur befreundeten Junta in Myanmar scheint wichtiger als die Rechte des eigenen Volks.
Der UN-Sondergesandte für Myanmar hat Thailands Premierminister im Mai zwar zugesichert, etwaigen Flüchtlingen humanitäre Hilfe zu leisten. Doch Hilfsorganisationen berichten hinter vorgehaltener Hand, dass ihnen die Arbeit schwer gemacht werde. Als Hunderte Männer, Frauen und Kinder vor Luftangriffen der Tatmadaw an die Grenze flohen, wurden sie abgewiesen. Wegen der Pandemie, hieß es. Solange es weiterhin informelle Kanäle gibt, um Hilfe zu leisten, will sich niemand öffentlich über die Haltung Thailands beklagen. Auch Andrew nicht.
Eigentlich war er Anfang 2021 nach Thailand gekommen, um einen Kongress der Karen National Union (KNU) vorzubereiten. Dort wäre über eine neue Führung abgestimmt und der Friedensprozess diskutiert worden. Doch der Putsch hat alles wieder infrage gestellt. Auch für die KNU.
Ein weicher Waffenstillstand
Seit 1949, ein Jahr nach Myanmars Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht, kämpft die KNU gegen die Zentralarmee. Anfängliche Forderungen nach einem eigenen Staat wichen dem Wunsch nach Föderalismus. 2012 schloss die KNU einen Waffenstillstandsvertrag mit dem Militär – das weiter Straßen und Militärlager baute, ohne wie vereinbart die Einwilligung der KNU einzuholen. In den Augen vieler Karen hat der Waffenstillstand vor allem dem Militär genutzt.
Vor rund zehn Jahren – in Nordafrika und dem Nahen Osten brodelte damals der Arabische Frühling – beschloss Myanmars Militär überraschend, eine Demokratisierung einzuleiten. Die Regierung wurde an eine Partei übergeben, die zwar weiter vom Militär gestützt war, aber echte Reformen einleitete. 2012 zog die Nationale Liga für Demokratie (NLD) erstmals ins Parlament ein. Der Westen war hingerissen von dem friedlichen Übergang. Doch hinter den Kulissen war die Situation weiter angespannt.
Als die NLD 2015 bei den Wahlen einen haushohen Sieg errang, wies Aung San Suu Kyi das Volk an, sich mit ausgelassenen Feiern zurückzuhalten. Das Militär sollte bloß nicht vor den Kopf gestoßen werden. Die Angst vor einem Putsch war so allgegenwärtig, dass 2017 sogar Menschenrechtsaktivisten schwiegen, als grausame Berichte über die Verbrechen des Militärs an den Rohingya um die Welt gingen.
Für viele Karen ist die Brutalität des Militärs keine Überraschung – auch jetzt nicht. Jahrzehntelang wurden sie vom Militär unterdrückt. Wenn in den internationalen Medien heute die Frage diskutiert wird, ob Myanmar nun in einen Bürgerkrieg abdriftet, kann Andrew nur den Kopf schütteln. „In Myanmar herrscht seit Jahrzehnten Bürgerkrieg“, sagt er. Das Land kennt seit der Unabhängigkeit von den Briten überhaupt keinen anderen Zustand. Während das Land in der Weltöffentlichkeit im vergangenen Jahrzehnt als Beispiel für einen friedlichen Übergang gelobt worden ist, wurde in den Dschungeln weitergekämpft.
Weniger frei
Wer in die Minderheitengebiete reiste, lernte ein Myanmar kennen, das weit weniger demokratisch und frei war als das Land, das die Außenwelt so gerne beklatschte. Bald wich vor allem für die Minderheiten die Hoffnung auf Aung San Suu Kyi der Ernüchterung und später Wut. So zum Beispiel 2018, als die Friedensnobelpreisträgerin das Militär nicht sehr diplomatisch anwies, die Rebellen der lange unterdrückten Rakhine zu „zerschlagen“.
Die Spannungen zwischen Minderheiten und der Mehrheitsbevölkerung in Myanmar gehen zurück auf die Herrschaftsstrategie der Briten: Teile und herrsche. Die Tatmadaw geriert sich seit jeher als Schutzmacht der Einheit. Ohne das Militär implodiert Myanmar, so die Propaganda. Die Generäle betonten regelmäßig, dass sie sich erst dann aus der Politik verabschieden könnten, wenn der Konflikt im Land beigelegt sei. Ein Konflikt, den sie selbst regelmäßig provozierten.
„Wir haben so sehr um Frieden gekämpft“, sagt Padoh Kwe Htoo, der Vizevorsitzende der KNU und damit Andrews Chef. Jahrzehntelang hat er nichts anderes getan, als für den Frieden verhandelt. Seine Frau scherze oft, dass er ja gar nichts anderes mehr könne, als Friedensverhandlungen zu führen. Was jetzt noch seine Mission sein soll, weiß der Mann nicht, der eigentlich bald in den Ruhestand gehen wollte. Er sitzt in einem Haus in Mae Sot und starrt viel in die Ferne.
An der Wand hängt ein Bild des thailändischen Königs. Das Wohnzimmer ist nur spärlich möbliert. Man will hier nicht mehr als nur Gast sein. „Der Coup hat alles zerstört“, sagt er. Selbst wenn das Militär sich morgen in Luft auflösen würde, müsste man das ganze Land wieder neu aufbauen.
Wenig Einigkeit untereinander
Die zahlreichen Minderheitenarmeen im Land, darunter auch die unter Kontrolle der KNU, haben jahrzehntelang versucht, dem Militär beizukommen. Geschafft haben sie es nicht. Padoh Kwe Htoo scheint schon lange nicht mehr an den Kampf zu glauben. Außerdem habe nicht einmal der Putsch die zahlreichen Rebellengruppen im Land vereinen können, so wie viele Myanmaren es sich im Moment wünschen würden. „Wie soll das gehen? Es sind ja nicht einmal wir Karen uns untereinander einig“, sagt Padoh Kwe Htoo. Immer wieder haben sich in der Vergangenheit Fraktionen von der KNU abgespalten. Manche blieben unter ihrer Kontrolle, andere machten sogar gemeinsame Sache mit dem Militär.
Seit dem Coup splittert sich die Landschaft der Anti-Tatmadaw-Kämpfer weiter auf. Im ganzen Land entstehen Bürgerwehren, die gegen das Militär kämpfen wollen. Padoh Kwe Htoo ist besorgt, dass Myanmar ins Chaos abstürzen könnte. „Inzwischen kann jeder jeden töten, ob es nun um eine persönliche Abrechnung oder tatsächlich um das Militär geht“, sagt er. Die verschiedenen bewaffneten Gruppen seien nicht organisiert. Schwer unter Kontrolle zu halten sind auch die eigenen Truppen. Weil Soldaten der Karen National Defence Organisation (KNDO), einer bewaffnete Untergruppe der KNU, offenbar ein Massaker an 25 angeblichen Spionen des Militärs verübt haben, wurde der Kommandeur vor Kurzem suspendiert.
Schon immer suchten die Oppositionsgruppen bei den Karen Schutz vor dem Militär. Nach der Niederschlagung der Proteste 1988 bot man Aktivisten Schutz im Dschungel. Viele von ihnen kamen später während der Demokratisierung an die Macht. „Aber sie haben uns vergessen“, sagt er. „Die Mehrheitsbevölkerung blickt auf uns herab. Sie sind Chauvinisten.“
Die NLD-Regierung entpuppte sich für die Minderheiten im Land als große Enttäuschung. Die Regierung stellte sich mehrheitlich auf die Seite des Militärs. Im Namen der vielbeschworenen „nationalen Versöhnung“ mit der Institution, die Myanmar ein halbes Jahrhundert lang eisern im Griff hatte, war es plötzlich nicht mehr erwünscht, über die Menschenrechtsverletzungen zu sprechen, denen die Minderheiten weiter ausgesetzt waren. Die Menschen dort waren desillusioniert und wütend auf die neue Regierung. „Jetzt sind sie wieder da“, sagt Padoh Kwe Htoo und lacht.
Zufluchtsort für Oppositionelle
Seit Monaten beherbergt die KNU in den Gebieten unter ihrer Kontrolle Oppositionelle. Rund 5.000 seien gekommen, Journalisten, Anwälte, Menschenrechtler, Demonstranten, Politiker und sogar Deserteure des Militärs. Nicht alle sind geblieben. Gemeinsam schmieden sie Pläne, wie man dem Militär beikommen könnte. Viele Aktivisten haben ihre Protestbanner gegen Uniformen eingetauscht: Sie wollen von der KNU-Armee trainiert werden und in den Kampf gegen das Militär ziehen.
„Kämpfe sind keine Lösung“, sagt dazu Padoh Kwe Htoo. „Wir haben es 60 Jahre lang versucht und nicht geschafft“, sagt er. Er weiß, dass er mit solchen Meinungen im Moment nicht auf viel Sympathie stößt. Als der KNU-Vorsitzende im Mai in einer Stellungnahme, die später als seine persönliche Meinung deklariert wurde, zu Verhandlungen mit dem Militär aufrief, sorgte das für großen Unmut, auch bei den Karen. „Wir müssen vorsichtig sein. Die Öffentlichkeit hört so etwas nicht gerne“, sagt Padoh Kwe Htoo und blickt besorgt über seinen goldenen Brillenrand.
In Myanmar will man davon aktuell wenig wissen. Jeden Tag gibt es Berichte von mehr Toten. Die Menschen wollen keinen Kompromiss mehr. Sie wollen das Militär loswerden. Padoh Kwe Htoo hält sich an einem Holzschrank fest und starrt in die Ferne. „Unser Land ist verflucht.“
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