Mutter von Opfer zu Anschlag in München: „Die Polizei zeigte nie Mitgefühl“
Vor sechs Jahren tötete ein Rechtsextremist neun Menschen in München. Sibel Leyla hat dabei ihren Sohn Can Leyla verloren.
taz: Am 22. Juli jährt sich das rechtsextreme Attentat in München. Was empfinden Sie?
Sibel Leyla:Traurigkeit, Verzweiflung, Schmerz, Verlust, Cans Abwesenheit. Ein weiteres Jahr ohne ihn. Wir bemühen uns, das Attentat ins Bewusstsein zu rufen. Noch ein Jahr, in dem wir, die Hinterbliebenen, mit unserer Verzweiflung alleine sind. So ein traumatisches Ereignis hat sich ins Gedächtnis eingraviert. Jeden Tag wünsche ich mir, dass niemand diesen Anschlag hätte erleben müssen. Hätten die Behörden die notwendigen Maßnahmen ergriffen, wäre er nicht geschehen. Obwohl von Anfang an klar war, dass es sich um rassistischen Terror handelte, wurde er medial als Amoklauf deklariert. Die Nacht des Anschlags bleibt unvergesslich. Als wir die Nachricht erhielten, dass unser Sohn unter den Toten ist, mussten wir den Schmerz alleine aushalten.
Wie blicken Sie auf die Arbeit der Sicherheitsbehörden?
Die Polizei zeigte nie Mitgefühl. Für sie waren wir nichts wert. Wir sind Opfer eines menschenfeindlichen Netzwerks geworden, das sogar in Behörden Unterstützer findet. Mein Sohn ist Opfer dieses Systems geworden. Alle Menschen, die rassistische Angriffe erlebt haben, wurden so behandelt wie wir damals. Es wird vertuscht, Menschenwürde zählt nicht. Wir brauchen Zusammenhalt, Aufrichtigkeit und Entschlossenheit, damit so etwas nie wieder passiert. Seit sechs Jahren sterbe ich jeden Tag mit meinem Sohn zusammen.
Welchen Wandel wünschen Sie sich?
Mein Mann und meine Söhne wurden hier geboren. Wir haben eine 70-jährige Geschichte hier und wollen eine Zukunft, in der wir nicht diskriminiert werden. Ich will nicht, dass wir uns hier fremd und unerwünscht fühlen. Deutschland hat eine multiethnische Bevölkerung. Das soll anerkannt werden, damit alle gleiche Chancen und Freiheiten haben. Attentäter, Waffenhändler und Mittäter sind menschenverachtend. Null Toleranz wäre die beste Antwort auf den Terroranschlag im OEZ. Stattdessen ist der Händler, der dem Attentäter die Waffe besorgt hat, wieder frei.
Warum bekommt dieses Attentat so wenig Aufmerksamkeit?
Deutschland zeigt kein Interesse, wenn es um rechten Terror aus den eigenen Reihen geht. Vermutlich ist es für Deutsche zu unangenehm. Es war klar, dass man den rechtsextremen Charakter des Anschlags vertuschen wollte. Die Medien waren an der Verschleierung beteiligt; die Familien waren nicht in der Verfassung, die Lügen und Fehler zu überblicken. Sie überzeugten die Menschen in München mit falschen Nachrichten. Erst als wir angefangen haben aufzuklären, konnten wir einige aufwecken. Wir bekommen jedoch nicht genug Unterstützung und Aufmerksamkeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball