Mutmaßlicher Übergriff bei Reality-Show: Der Fall „Princess Charming“
Eine Reality-Kandidatin wirft der anderen einen sexuellen Übergriff vor. Diese gibt alles zu, dann doch nicht. Was geschah bei „Princess Charming“?
Die mutmaßliche Täterin Wiki reagiert umgehend und gesteht die Tat, in einem eigenen Posting. Zweifelsfreie Sache, so scheint es. Doch RTL und die Produktionsfirma Seapoint, widersprechen: Es habe keinen Übergriff gegeben. Dann, Wochen später, kurz vor Weihnachten, ändert Wiki ihre Aussage. Was damals passiert ist, sei eine einvernehmliche Situation gewesen, sagt sie bei Instagram.
Der Fall „Princess Charming“ ist rätselhaft und ungewöhnlich. Aber er verrät viel über Reality-TV. Und er wirft wichtige Fragen auf, bezüglich Einvernehmlichkeit und Verantwortung.
Reality-Shows haben keinen guten Ruf. Die Kandidat*innen würden vor laufender Kamera zur Schau gestellt, ist ein häufiger Vorwurf. Herabwürdigendes Verhalten werde dabei in Kauf genommen. „Princess Charming“ dagegen überraschte positiv. Das Prinzip der Show: Knapp 20 Singles ziehen in eine Villa. In Dates sollen die die „Princess“ kennenernen. Die wählt am Ende eine Kandidat*in aus, die ihr Herz gewonnen hat. Es war die weltweit erste lesbische Datingshow – und sie fiel dadurch auf, dass sie nicht etwa Mobbing zeigte oder ständige Streitereien. Stattdessen thematisierten die Kandidat*innen diskriminierendes Verhalten und empowernde Momente, die sie erlebt hatten. Eine ersehnte politische Bühne für die LGBTIQ-Szene, hieß es in der Presse.
Ein Gutachten schließt auf Einvernehmlichkeit
Doch das Bild der guten Reality-Show gerät ins Wanken, als am 14. November, knapp anderthalb Jahre nach der Ausstrahlung der ersten Staffel, Jo die Vorwürfe gegen Wiki erstmals äußert. Jo sagt auf Instagram: Wiki habe sich in einer Nacht in der Villa, die alle Kandidatinnen bei Dreh gemeinsam bewohnen, sehr nah an sie gelegt und habe versucht sie zu küssen. Nachdem sie, Jo, „Nein“ gesagt habe, soll Wiki ihre Arme über dem Kopf festgehalten und abermals versucht haben, Jo zu küssen. Am Tag darauf habe Jo erfahren, dass Wiki zu diesem Zeitpunkt unten nackt gewesen sei. „Ich habe das am Tag darauf schon für mich als sexuellen Übergriff deklarieren können“, sagt Jo in dem Posting. Es ist weiterhin bei Instagram Online, darunter über tausend Kommentare. Die meisten bedanken sich für Jos Mut.
Empfohlener externer Inhalt
Die Reaktion von Wiki erscheint einen Tag später, ebenfalls ein Instagram-Video. Wiki bestätigt, dass der Übergriff genau so stattgefunden habe. Sie sagt, man solle bitte nicht von einem „Vorwurf“ sprechen, da Jos Aussagen zuträfen. Wenig später ist Wikis Account offline. Das Video liegt der taz aber vor. Wiki selbst hat sich der taz gegenüber trotz mehrfacher Anfragen in den letzten Wochen nicht geäußert.
Bis Produktionsfirma und Sender sich äußern, dauert es ein paar Tage. Am 18. November veröffentlicht der Account „charmings.official“ ein kurzes Statement: „Die Details und das Ausmaß des von Jo beschriebenen Vorfalls und ihre Einordnung der Situation waren uns so nicht bekannt.“ Eine Woche später folgt ein weiteres Statement auf dem gleichen Account: „Ein unabhänger Anwalt für Strafrecht ist jetzt – nach Überprüfung des kompletten Rohmaterials inklusive des Interviews vom nächsten Tag – in einem Gutachten zu der Auffassung gekommen dass das Bildmaterial ‚eindeutig für eine Einvernehmlichkeit spricht‘ und ‚eine strafbare (ggf. versuchte) sexuelle Nötigung (…) bzw eine sexuelle Belästigung (…) nicht belegbar sind‘“. Bei Instagram wird der Umgang des Senders und der Produktionsfirma mit der Betroffenen daraufhin von vielen als unsensibel kritisiert.
Das Gutachten des Anwalts liegt der taz vor. Darin wird beschrieben, wie Wiki auf Jo liege und die beiden „sehr vertraut“ wirkten. Weiter heißt es: Ein Kussversuch sei nicht erkennbar und ein „Nein“ von Jo nicht hörbar. An dieser Stelle wird angefügt, dass das Gespräch der beiden „insgesamt nicht vollständig zu verstehen ist“. Das Gutachten kommt aber zu dem Schluss, dass „das Bildmaterial eindeutig für eine Einvernehmlichkeit spricht.“
Die Netzgemeinde analysiert jede Bewegung
In dem geschnittenen Material von den Kameras in der Villa sind sowohl die Schilderungen von Jo als auch die aus dem Gutachten größtenteils erkennbar. Trotz zwei Kameraperspektiven ist ein Kussversuch nicht zu sehen, allerdings sind die Gesichter der beiden teilweise durch Wikis Haare oder eine Decke verdeckt. Klar ist: Es ist nicht alles auf Film, was passiert ist. Die Gespräche der beiden sind, wenn überhaupt, nur im Ansatz zu hören. In der Nacht nehmen die Kandidat*innen in der Regel die Mikrofone vom Körper und legen sie auf den Nachttisch.
Das Videomaterial hat RTL den beiden Kandidatinnen zur Verfügung gestellt. Wiki sagt, für sie ändere das Material alles. In einem Posting, das sie am 23. Dezember bei Instagram hochlädt, sagt sie, dass sie nun sicher sei: Was zwischen ihr und Jo passiert sei, sei einvernehmlich gewesen. Ihr zunächst gepostetes Geständnis erklärt sie so: Sie habe sich nicht mehr an alles erinnern können aus der Nacht und habe nach dem Prinzip handeln wollen, dass man Betroffenen glauben solle. Das Videomaterial habe nun aber Klarheit geschaffen.
Wiki hat das 25-minütige Material aus der Nacht in der Villa bei YouTube hochgeladen. Unter den intimen Aufnahmen analysieren nun Nutzer*innen in den Kommentaren die Körpersprache der beiden Kandidatinnen und fällen Urteile darüber, ob hier ein Übergriff vorliege oder nicht. Jo sagt der taz, dass sie nicht gefragt worden sei, ob sie mit dem Hochladen des Materials einverstanden ist. Sie selbst habe diese Bilder lange nicht sehen wollen aus Angst vor einer Retraumatisierung. Mittlerweile habe sie sie angeschaut: „Es zeigt den Übergriff an mir genau wie ich ihn erinnere“, sagte Jo. „Dass Wiki dieses Videomaterial heranzieht, um ein Narrativ der ‚Fakten‘ aufzubauen und um zu suggerieren, meine Wahrheit wäre eine Lüge, ist fatal für mich und weitere Betroffene.“
Für Jo ist das Material kein Beweis für eine Einvernehmlichkeit. „Die Interaktion mit Wiki geschah so lange in meinem Einverständnis, bis sie sich mit nacktem Unterkörper auf mich legt und meine Hände über meinen Kopf hält.“
Was übergriffige Handlungen begünstigt
Daraus, dass keine rohe Gewalt zu sehen ist und die beiden intim miteinander sind, schließen viele im Netz jetzt: ein Übergriff sei ausgeschlossen. Doch wo hört Einvernehmlichkeit auf? Ist sie gegeben, bloß weil kein „Nein“ zu hören ist? Reicht es nicht als Übergriff, dass eine Person sich nackt zu einer anderen legt, die das nicht weiß?
Kann ein Video allein einen Übergriff beweisen – oder ausschließen?
Vieles am Set von Reality-Shows begünstigt übergriffiges Verhalten. Da unterscheidet „Princess Charming“ sich kaum von anderen Shows: Die Kandidat*innen dürfen keinen Kontakt zur Außenwelt haben, trinken Unmengen an Alkohol und werden in langen Einzelinterviews ausgefragt: über andere Kandidat*innen und zu bestimmten Situationen. Die einzigen Menschen, an die sie sich wenden können, sind die vom Produktionsteam. Gerade die suchen aber nach spannenden Geschichten. Ein echtes Vertrauensverhältnis fehlt. Psychologische Hilfe am Set bieten nur wenige Reality-Sendungen an. Bei „Princess Charming“ gab es keine, bestätigt RTL.
Jo geht es nicht nur um das Verhalten von Wiki, sagt sie der taz. Es gehe auch um Produktion und Sender. Nach dem Vorfall in der Villa sei Jo am nächsten Morgen ins Einzelinterview gebeten worden. Sie habe mehrfach wiedergeben sollen, was passiert war. „Ich musste mein Handeln erklären und wurde mehrmals gefragt, warum ich Wiki denn nicht küssen wollte.“ Und weiter: „Ich habe es in dem Moment nicht als sexuellen Übergriff benannt, aber kurz darauf klar gemacht, dass das gegen meinen Willen passiert ist und ich in dem Moment nicht näher darüber sprechen konnte.“ RTL bestätigt auf Anfrage, dass in dem Gespräch gefragt wurde, warum Jo Wiki nicht küssen wollte.
Jo sagt, zu diesem Zeitpunkt habe sie nicht klar formulieren können, was ihr geholfen hätte. Heute schon: „Die Produktion hätte erkennen müssen, dass es mir nicht gut geht und hätte das Interview vor laufender Kamera beenden müssen. Ich hätte mir gewünscht, dass Wiki die Show verlässt und mir psychologische Hilfe angeboten wird.“ RTL und Seapoint sagen, ihnen sei die Situation damals nicht als Übergriff geschildert worden. „Sonst hätten wir auch schon damals unsere Hilfe angeboten“.
Wie soll es weitergehen bei „Princess Charming“?
Die Aufarbeitung des Falls ist aus Sicht von Sender und Produktionsfirma vorerst beendet. „Jo hat zu unserem Bedauern alle Angebote abgelehnt, was eine finale Klärung und Aufarbeitung der Situation leider unmöglich macht“, heißt es in der schriftlichen Antwort an die taz. Auch Wiki sagt in ihrem jüngsten Instagram-Video, dass sie gerne „professionell begleitet“ mit Jo gesprochen hätte. Jo entgegnet gegenüber der taz: „Die Kommunikation mit Seapoint und der WhatsApp-Austausch mit Wiki sowie das Drängen auf eine Sichtung des Übergriffs meinerseites haben mich enorm unter Druck gesetzt.“
Dass der Sender unausgestrahltes Material einer Reality-Show herausgibt, ist ungewöhnlich. Dass Kandidat*innen öffentlich über Erlebnisse am Set sprechen, erst recht. Verschwiegenheitserklärungen verhindern dies normalerweise. Vielleicht stößt der Fall also einen Wandel an. Mittlerweile hat eine weitere Kandidatin aus der ersten Staffel eine andere Kandidatin des sexuellen Übergriffs beschuldigt. Man sei mit beiden Parteien im Austausch, sagen RTL und Seapoint auf Anfrage. Videomaterial der Situation existiere in diesem Fall nicht, deshalb sei auch kein Gutachten geplant.
Jo sagt, sie wolle nicht, dass „Princess Charming“ beendet wird – sondern verbessert. Sie wünsche sich ein Umdenken. „Dass das Produktionsteam Verantwortung übernimmt und Strategien entwickelt, damit grenzüberschreitendes Verhalten am Set nicht begünstigt wird“. RTL sagt, ein entsprechender Präventionsleitfaden werde nach dem Fall nun erweitert. Ob es künftig am Set anders zugehen wird, bleibt offen. Ebenso, ob es ein „künftig“ überhaupt gibt. Auf Nachfrage nach einer dritten Staffel „Princess Charming“ sagt RTL nur: „Das geben wir rechtzeitig bekannt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern