Faszinosum Reality-TV: Mehr als nur Abschalten
Warum gucken Menschen sogenannte Trash-Formate? Um eigene Kränkungen und die Zumutungen des Lebens kurz zu vergessen.
Wer schaut sich diesen Scheiß überhaupt an? Die Antwort lautet: ziemlich viele Menschen in Deutschland. Vergangenes Wochenende waren es laut quotenmeter.de 1,59 Millionen Menschen ab drei Jahren, die „Temptation Island VIP“ auf RTL geschaut haben, ein Marktanteil von 16,3 Prozent. Zum Vergleich: Der „Tatort“, Inbegriff des deutschen Wochenendausklangs mit quasireligiösem Kultcharakter, kam letzte Woche auf einen Marktanteil von 21,6 Prozent.
Was allgemeine Beliebtheit angeht, ist der Unterschied zwischen bildungsbürgerlichem Krimi und dem als Unterschichtenfernsehen verschrienen „Trash-TV“ überschaubar. Ohnehin scheint die Annahme mehr als zweifelhaft, dass es vor allem Arme und Ungebildete sind, die sich Müll-Formate reinziehen.
Trash-TV-Expertin Anja Rützel verweist in ihrem Buch „Trash TV. 100 Seiten“ auf das Beispiel „Dschungelcamp“ und eine Zuschauer:innenanalyse von 2015, die ergeben hat, dass jede:r dritte Zuschauer:in ein Abitur hat, jede:r vierte Akademiker:in ist. Auch wenn sie das Format als „Sonderfall“ der „restjährig Trash-Desinteressierten“ bezeichnet – „Doch wenn es schon mal Schund sein darf, dann wenigstens der beste Schund“ –, sind diese Zahlen, wenn auch nicht repräsentativ, doch mindestens interessant.
Banalität, die gut tut
„Temptation Island VIP“ ist im Grunde die dritte Staffel von „Temptation Island“, diesmal aber mit sogenannten Promis: Vier Paare werden auf eine Insel geladen, wo sie ihre Liebe testen wollen. Dabei bewohnen die Männer und Frauen jeweils getrennte Domizile mit 12 hotten Singles des anderen Geschlechts, die zwei Wochen lang versuchen, sie zu verführen.
In zwei Texten widmen wir uns zwei wesentlichen Fragen rund um das Fernsehfaszinosum Reality-TV:
Warum schauen sich Menschen sogenannte Trash-Formate überhaupt an?
Und wie viel Grenzüberschreitung darf gezeigt werden und wer trägt die Verantwortung dafür?
Abends sitzen die vergebenen Männer und Frauen dann mit einer streng dreinschauenden Moderatorin am Lagerfeuer und bekommen häppchenweise Grenzüberschreitungen ihrer Partner:innen auf dem Bildschirm geliefert. Wenn krasse Sachen passiert sind, dann fließen auch mal Tränen, und dann folgt eventuell auch Rache. Am Ende bleiben die Paare zusammen. Oder sie trennen sich.
Das Ganze eignet sich sicherlich zum abendlichen „Abschalten“, oder die Banalität des Angeschauten wird im Gegensatz zur anstrengenden Komplexität der Welt als erleichternd erlebt.
Es werden zudem gesellschaftliche Normen verhandelt: Wie haben Männer und Frauen (nicht) zu sein? Wie hat eine Partnerschaft (nicht) auszusehen? Lust verschafft beim Schauen bestimmt auch die Möglichkeit, verdrängte, weil tabuisierte Triebregungen – nicht nur sexuelle, sondern auch aggressive und unsoziale – ein Stück weit auszuleben.
Es geht nicht um das Gesagte
Laut Ulrike Prokop, emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaft und psychoanalytische Kulturtheoretikerin, geht es jedenfalls weniger um das Gesagte. Im Sammelband „Doku-Soap, Reality-TV, Affekt-Talkshow, Fantasy-Rollenspiele“ aus dem Jahr 2006 analysiert sie das Format „Big Brother“ – und vertritt die These, dass es „um die faszinierende Betrachtung von Mustern der Selbstdarstellung“ gehe, um „sinnliche, nonverbale Inszenierung“. Zwischen der Rede und dem Seherlebnis klaffe eine Differenz. Die Rede, also auch die moralische Debatte unter Zuschauer:innen, diene dabei als „Vorwand für die Augenlust“.
Und woher kommt die Faszination für das, worüber nicht gesprochen wird? Von der Identifikation mit den perfekten Körpern und ihren Inszenierungen, die uns „das Schreckliche hinter dem Schleier“ kurzzeitig vergessen ließen, so Prokop.
Gemeint sind die eigene Unvollkommenheit und die erlebten Zumutungen des Lebens. Weil die Erinnerung an diese aber prompt wieder einkehre, falle die Wut auf die Charakterschwächen der Figuren, die sich dann doch auch zeigen, umso härter aus.
Man schaut Trash-TV also auch, weil man sich schlecht selbst dissen kann.
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