Musiktheater im Cyberraum: Der Hölle Netz hat uns umgarnt

In der Virtual-Reality-Version der Oper „Der Freischütz“ kommen Romantik und Techgeschichte zusammen. Geschwebt wird durch Dornenkränze.

Schemenhaft sieht man eine aus Lichtpunkten zusammengesetzte, halb liegende Figur.

Da und doch nicht greifbar: die Figur des Max aus dem „Freischütz“, in einer Punktwolke aufgelöst Foto: CyberRäuber

Mit dem „Freischütz“ kann man’s ja machen. Die Oper von Carl Maria von Weber, Libretto Friedrich Kind, wurde ja auch schon von Tom Waits, Robert Wilson und William S. Burroughs zur Rockoper „Black Rider“ umgebaut. Eine Virtual-Reality-Version dieser Oper? Offenbar bietet das Material, das bei seiner Uraufführung als Ausgangspunkt einer spezifisch deutschen Operntradition betrachtet wurde, immer noch Anknüpfungspunkte für die Gegenwart.

Und irgendwie ist die Geschichte von dem Bauernbub, der für die Liebe ein Geschäft mit dem Teufel eingeht und um Mitternacht „Freikugeln“ gießt, die immer das Ziel treffen, von bleibender Aktualität. Denn ist das nicht auch eine Modernisierungsparabel? Eine Technologie – das Schießgewehr – wird verbessert. Diese Technologie funktioniert effektiver. Aber sie hat auch unerwartete Nebenwirkungen. Jede siebte Kugel trifft ein Ziel, das nicht der Schütze, sondern der Teufel bestimmt hat.

So wie Drohnen weniger Marines das Leben kosten, aber auch das empathiefreie Bombendroppen auf Zivilisten ermöglichen wie in einem Videospiel. So wie Twitter zum globalen Dialog beigetragen hat, aber auch Donald Trump eine Plattform für seine Hassmaschine bietet.

Und der „Freischütz“ Max? Ist der nicht auch ein Selbstoptimierer, der Risiken und Nebenwirkungen in Kauf nimmt, um einem von außen vorgegebenen Idealbild zu genügen? So wie dopende Sportler? Bodybuilder, die sich mit Anabolika aufpumpen? Influencer, die sich Likes kaufen oder sich die Lippen aufspritzen lassen? So einen Stoff kann man dann wohl auch in den Cyberspace verlagern, den VR-Brillen eröffnen, wie es die Berliner Medienkunstgruppe CyberRäuber (Marcel Karnapke und Björn Lengers) in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medien und dem Badischen Staatstheater, beide in Karlsruhe, getan hat.

„Fragmente. Ein digitaler Freischütz“, bis 21. Juni 2020 bei CLB Berlin im Aufbau-Haus am Moritzplatz in Berlin Kreuzberg. Voranmeldung unter www.clb-berlin.de

Exklusiv für vier Zuschauer gleichzeitig

In Berlin ist ihre Version des „Freischütz“ nun im Collaboratorium Berlin (CLB) im Aufbau-Haus am Moritzplatz zu sehen. Unter strenger Berücksichtigung der derzeitigen Hygieneregeln kann man sich dort viermal täglich nach Anmeldung unter vier VR-Brillen zwängen und einen virtuellen Remix des klassischen Stoffs erfahren.

In dem sachlichen Erdgeschossraum an der Oranienstraße fehlt dann zunächst einmal so gut wie alles, was die Aura eines klassischen Opernbesuch ausmacht, die Eau-de-Cologne-Schwaden im Foyer, die Abendgarderobe und der Pausenchampagner; statt Opas Opergläser muss man sich VR-Brillen aus Plastik über den Kopf stülpen. Pro „Vorstellung“ werden vier Zuschauer mit zwei Meter Abstand in die Nutzung der Geräte eingewiesen und müssen dabei auf festgeklebten Rollstühlen sitzen. Zwei VR-Brillen funktionieren erst mal nicht. So hinkt die Technologie der künstlerischen Vision hinterher.

Eigentlich prägte die Oper ja schon im 19. Jahrhundert der „Hang zum Gesamtkunstwerk“ aus Schauspiel und Musik, Gesang und Kulisse, die in der Virtual Reality nun um Medienformen wie Fotografie, Film, 3-D-Simulation und räumlich verteilte elektronische und digitale Musik erweitert ist.

Manches erinnert an Computerspiele aus den 90ern

In dem Paralleluniversum, in dem man sich dann wiederfindet, schwebt man zur Ouvertüre erst mal durch einen Art gewundenen Dornenkranz zur ersten virtuellen Bühne, die frei im digitalen Weltall hängt. Es ist die erste von vier Szenen, die weniger die Handlung des Stücks wiedergeben, sondern eher Situation und Atmosphären der Originaloper in die virtuelle Realität zu übersetzen versuchen. Dort findet man sich in deutschen Wäldern oder Irrgärten wieder, die in dieser Größe und Gestaltung weit über das hinausgehen, was auch auf der größten analogen Bühne möglich wäre.

Die CyberRäuber haben dabei bewusst eine Vielfalt von Gestaltungsmöglichkeiten von Malerei bis zu dreidimensionalen Wire-Frame-Räumen genutzt, auch um die Vielseitigkeit des Mediums zu demonstrieren. Vor diesen virtuellen Kulissen erscheinen dann die Sänger, die am Badischen Staatstheater bei einer traditionellen Inszenierung des „Freischütz“ aufgetreten waren.

Sie wurden beim Live-Auftritt aus mehreren Perspektiven aufgenommen, sodass der Betrachter sie umkreisen kann; an einer Stelle verdreifacht sich Sänger Konstantin Gorny und wenn man sich von einer zur anderen virtuellen Version des Sängers bewegt, ändert sich auch die Soundperspektive, die Micha Kaplan gestaltet hat.

Nicht alles beeindruckt, manche der Räume erinnern an Computerspiele aus den 90er Jahren. Was immer auch beim individuellen Betrachter hängen bleibt – auf jeden Fall wurde hier die Coronakrise genutzt, um neue performative Methoden für die „neue Normalität“ zu erproben.

Die Dialektik solcher Versuche kann man schon ins Libretto des „Freischütz“ hineinlesen. Zum Beispiel wenn Kaspar, der aus Rachegelüsten den Opernhelden Max zum „Freischuss“ überredet, in seiner berühmten Arie singt: „Der Hölle Netz hat dich umgarnt! Nichts kann vom tiefen Fall dich retten (…) Umgebt ihn, ihr Geister mit Dunkel beschwingt! Schon trägt er knirschend eure Ketten!“ Das klingt so etwa nach dem Schicksal des Opernfreundes, der sich plötzlich in Ermangelung von traditionellen Aufführungen in der „kleinen Variante“ der VR-Version des „Freischütz“ wiederfindet. „Der Hölle Netz“ umgarnt den Betrachter dann in Form von Daten und digitalen Szenarios. „Schon trägt er knirschend eure Ketten!“ Daran mag man sich auch erinnern, wenn man das nächste Mal in einer endlosen Zoom-Konferenz festsitzt.

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