Musikszene in Düsseldorf: Glasgow am Rhein ist modern
Düsseldorfs neue Musikszene ist international konkurrenzfähig. Bands wie Stabil Elite berufen sich auch auf Krautrock-Traditionen.
Hierzulande können der Popstadt Düsseldorf nur sehr wenige das Wasser reichen. Ihre Erfolgsgeschichte, deren Wurzeln Jahrzehnte zurückreichen, lässt sich nicht nur an Aushängeschildern wie Kraftwerk und Fehlfarben schreiben. In deren Windschatten entstand immer spannende, widerständige Musik.
Dies behält die NRW-Landeshauptstadt bis heute bei: So wirken rund um die ansässige Kunstakademie und den Künstler*innentreff und Club Salon des Amateurs immer noch eine erstaunliche Anzahl an Projekten und Musiker*innen.
Das Label Themes For Great Cities gehört genauso dazu wie der Dubstep-Produzent Orson und der Percussion-New-Age-House-Musiker Bufiman. Dem Düsseldorfer Label OFFEN haben wir uns an dieser Stelle bereits gewidmet.
Bei allem berechtigten Applaus für das kreative Schaffen am Rhein, nach nichtmännlichen Musikschaffenden muss man sich dort länger umschauen. Als Galionsfigur gilt in Düsseldorf die Musikerin Viktoria Wehrmeister – die derweil jegliche Vereinnahmung als Quotenfrau ablehnt. So was hat Wehrmeister, die unter dem Pseudonym Decha beim Berliner Label Malka Tuti veröffentlicht, auch gar nicht nötig.
Superbilk all over the World
Decha: „La Vida te Busca“ (Malka Tuti/One Eye Witness)
AIRCHINA: „LP3“ (Italic/Rough Trade)
Life Style West: „Mir tut alles weh“ (Candomblé/One Eye Witness)
Die Mittfünfzigerin ist wichtig für die lokale Szene. Schon in den Neunzigern veröffentlichte Wehrmeister mit der Band Superbilk zwei tolle Alben, die auch außerhalb von Düsseldorf wahrgenommen wurden. Selbst NEU!-Drummer Klaus Dinger wurde seinerzeit auf Wehrmeister aufmerksam und engagierte sie für sein Projekt „la! NEU?“. Später spielte sie mit Dingers Bruder Thomas bei 1-A Düsseldorf.
Dann wurde es leiser um die ebenso als Bildende Künstlerin tätige Wehrmeister. Sie zog Kinder groß und arbeitete in der Kunstpädagogik. Bis es, wie sie heute sagt, nicht mehr weiterging: „Die Kinder waren schon größer, und ich merkte, ich musste raus aus der Situation. Ich hatte so viel zu sagen und auszudrücken. Ich war wütend und brauchte dafür ein Organ.“
Kurzentschlossen tat sich Wehrmeister mit Detlef Weinrich zusammen, den sie noch aus den 1990ern von der Band Kreidler kannte – man hatte im selben Gebäude Proberäume und sogar eine gemeinsame Single aufgenommen. So entstand das Trio Toresch, neben Weinrich und Wehrmeister gehört auch der Bildende Künstler Jan Wagner (der Wehrmeisters Ehemann ist) zum Projekt.
Mach ma' alleine
Eine Liveversion mit dubbigen Synth- und Sample-Lines, fesselnden Songtexten sowie eigens gefertigten Kostümen und Bühnenbildern entstand – außerdem erschienen Werke beim Label OFFEN. Doch Weinrich, der für die Instrumentals verantwortlich war, konnte auf Grund eigener Verpflichtungen als Produzent, Musiker und DJ mit dem Tatendrang Wehrmeisters nicht mithalten: „Detlef riet mir: Mach doch etwas alleine!“ Mit einem Tape-Gerät und tausend Ideen komponierte Wehrmeister fortan eigene Songs und nahm sie mit der Software Garageband auf.
Ein Alleinstellungsmerkmal: Sie singt spanisch. Wehrmeister wurde in Mexiko-Stadt geboren und textet sich als Decha inzwischen durch mystische Welten. „La Vida Te Busca“ (2021) und „Hielo Boca“ (2019) sind tolle Lo-Fi-Alben, die kompromisslos und vielschichtig, geradezu alchemistisch die spröden Sounds zusammenführen. Dechas sinistre Hermetik ist, wenn man sich auf sie einlässt, das Markenzeichen ihres Undergroundprojekts. Wehrmeister selbst wirkt dagegen lebensfroh und tatendurstig.
Angesprochen auf die Düsseldorfer Musikszene, resümiert sie, dass daran die in der Innenstadt beheimatete Kunstakademie einen großen Anteil habe. Dort kämen kreative, junge Leute zusammen, die stets etwas auf die Beine stellen. „Ich habe das Gefühl, dass Musik als künstlerischer Ausdruck für viele Kunststudent*innen an Bedeutung gewinnt. Früher gab es weniger Studierende, die wie ich, auch Musik gemacht haben. Da hieß es noch: ‚Frau Wehrmeister, so geht das nicht!‘ “
Klingende Kunstakademie
Heute sei man in Düsseldorf stolz auf seine „klingende Akademie“: Regelmäßig finden dort oder im benachbarten Salon Konzerte und Veranstaltungen statt. Düsseldorf hat in Deutschland eine ähnliche Rolle wie Glasgow in Großbritannien – bekannt durch seine Artschool-Szene.
Musiksozialisation im Kunstumfeld, die kennt auch der 36-jährige Nikolai Szymanski – obwohl er 30 Kilometer rheinaufwärts an der Kölner Kunsthochschule für Medien studierte. Das verzeiht man ihm in Düsseldorf gern, ist er doch eine der prägenden Figuren der letzten 15 Jahre. Gerade mit seiner Band Stabil Elite hinterließ Szymanski als singender Gitarrist Spuren.
Die Neo-Krautband reüssierte Anfang der 2010er Jahre mit einer vielbeachteten EP („Gold“, 2011) und einem gefeierten Album („Douze Pouze“, 2012). Stabil Elite neben Szymanski aus Lucas Croon, Timo Hein und Martin Sonnensberger bestehend, galt der Musikpresse seinerzeit als Aushängeschild einer schicken, jungen Popszene. Nach dem zweiten Album „Spumante“ (2016), dessen Rezeption für die Band enttäuschend schwach war („Wir mussten wieder bei null anfangen, und der Aufwand war dafür zu groß geworden“), ging Stabil Elite auf Tauchstation.
Synthie-Inspiration aus Fernost
Szymanski nahm die bis heute andauernde Auszeit zum Anlass, das Soloalias AIRCHINA zu lancieren. Auch wenn seine Musik inzwischen – wie etwa im Auftaktsong „Drifting“ – durchaus an die polternde Eisenbahnfahrt des Kraftwerk’schen „Trans Europa Express“ erinnert, orientierte sich Szymanski vor allem an Musik aus Fernost: Er bezog seine Inspiration von japanischen Synthie-Kompositionen – etwa jenen Ryuichi Sakamotos.
Das Debütalbum „LP1“ (2018) glänzt mit einem Spiel aus Klischees und Verweisen von Vorbildern. Im Mittelpunkt des Musikmachens in Alleinverantwortung stehen bei AIRCHINA der Einsatz einfacher Digitalsynthesizer, zurückhaltende Spielhaltung, bewusste Repetition und ein Verzicht auf Beats.
Eine neue Erfahrung im Vergleich zu Szymanskis früherer Karriere als Mitglied einer Band. Vor Kurzem folgte mit dem Album „LP3“ der Übergang in eine reifere Phase. Während AIRCHINA als Soloprojekt startete – in Abgrenzung zum einvernehmlichen Arbeiten im Bandgefüge –, sehnt sich Szymanski zusehends wieder nach den Möglichkeiten des gemeinsamen Produzierens. Anteil daran hat nicht nur – wie er betont – die Konzentration fantastischer Musiker:Innen in Düsseldorf, sondern auch sein Studionachbar Aki Vierboom; selbst eine der wichtigsten jungen Stimmen der Stadt.
Ein Kollektiv namens Candomblé
Vierboom ist dem kommunikativen Arbeiten zugetan. Er spielt in mehreren Gruppen und ist Teil eines Kollektivs, das mittlerweile seine Spuren hinterlassen hat: Candomblé. Ursprünglich sollte es ein Modelabel werden – ins Leben gerufen von Arisona Kaschiel Hampl und Philipp Tegtmeier-Lopes. Nach und nach kamen neben Gregor Darman und Vierboom (die sich als Duo Phaserboys nennen) auch Timo Speaker alias DJ Ungel und Jannes Becherer aka Jay Hoenes dazu.
Statt Kleidung zu entwerfen, organisierte das Kollektiv zunächst Partys und veröffentlicht inzwischen Schallplatten. Was mit EPs und tanzbarem Undergroundsound, geprägt von Breakbeat und Electro begann, klingt mit tribalistischen Anflügen inzwischen verteufelt wild. Mittlerweile werden auch Alben veröffentlicht. Diese schielen indes weniger Richtung Dancefloor, sondern zeichnen sich durch eine wunderbar flockige Poppigkeit und Crazyness aus. Neben der Berliner Combo Das Wettbüro gilt vor allen Dingen das Düsseldorfer Quartett LSW (Life Style West) als Aushängeschild von Candomblé.
Die Band – neben den Labelbetreibern Vierboom und Darman, gehören Sebastian Welicki und Leonard Horres zur Besetzung – klingt nach Post-Krautrock-German-Boogie-Ballonseiden-Pop längst vergangener Epochen. Verwandtschaft besteht etwa zum Sound von Der Plan.
Ungeschliffen, elegant, wirr und luzide
Doch Life Style West haben sich nicht der Nostalgie verschrieben, sie sind modern, cool und gewagt. In den elf Songs von „Mir tut alles weh“, dem neuen Album, wirken Komplexität und sphärischer Hintergrund, ungeschliffene Rohheit und nächtliche Eleganz, wirre und zugleich luzide Texte zusammen – und erzeugen einen Sog.
Sie singen meist auf Deutsch, trotzdem klingt alles sehr international und über den Tellerrand hinaus. Das Besondere an Düsseldorf: Mit der Kunsthochschule haben die Jungs von Candomblé nur am Rande zu tun – auch das ist möglich in der Großstadt am Rhein.
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