: Der Abgrund Mensch
Così fan tutte, Wozzeck, Dreigroschenoper – die Auftaktproduktionen beim diesjährigen Festival d‘Aix-en-Provence haben mal mehr, mal weniger Gegenwartsbezug, aber sie überzeugen
Von Joachim Lange
Die Musikfestspiele in Aix-en-Provence berufen sich gerne auf Mozart als Schutzheiligen, starteten aber im Théâtre de l’Archevêché unter freiem Himmel ausgerechnet mit der „Dreigroschenoper“ von Kurt Weill und Bert Brecht.
Inszeniert hat Schaubühnenchef Thomas Ostermeier, ein Stammgast bei den Nachbarfestspielen in Avignon, den populären Klassiker auf Französisch und in Koproduktion mit der Comédie Française. Die aktuellen Unruhen in den großen Städten Frankreichs verleihen dabei nicht nur Macheath Worten an die „Polizistenhunde“ per se Brisanz. „… Man schlage ihnen ihre Fressen mit schweren Eisenhämmern ein.“ Deeskalation geht anders. Im ästhetisch ehrgeizigen Rahmen wird die reklamierte Brisanz freilich nicht beglaubigt. Ein klassenkämpferischer Choral zum Mitsingen, zu dem das Publikum „animiert“ wurde, ändert daran nichts. Die ästhetische Form und die verordnete französische Eloquenz entfernen das Stück deutlich von der Gegenwart, machen es zu einer eher entlegenen historischen Reminiszenz. Es ist eine Revue, deren Bühnenhintergrund an suprematistische künstlerische Aufbrüche der Entstehungszeit erinnert. Daneben laufen Leuchtschriftbänder à la Jenny Holzer als Brückenschlag in die Gegenwart. Die berühmten Songs werden an der Rampe vor vier Standmikrophonen gesungen. Dort gibt es auch einen Hochzeitstorte-ins-Gesicht-Slapstick, der nicht enden will. Dazu noch eine Brückenkonstruktion und fahrbare Treppen. Marie Oppert als Polly und Christian Hecq als Peachum machen Eindruck – Birane Ba als Mackie bleibt blass. Immerhin besehen Maxime Pascal und sein Ensemble Le Balcon mit detailreich prägnanter Wucht auf der kämpferischen musikalischen Intention.
Dmitri Tcherniakovs „Così fan tutte“ dann war streitbar. Mit diesem am konsequentesten an die Nachwelt adressierten Beziehungsexperiment Mozarts von 1790 begann 1948 die Festspielgeschichte in Südfrankreich. Der bekennend Mozart-affine Thomas Hengelbrock sorgte mit seinem fabelhaften Balthasar-Neumann-Orchester für den rechten musikalischen Drive. Tscherniakov steigt in die Geschichte mit einem cineastischen Erfolgsrezept ein: mehrere Paare treffen sich zu einem Essen, im Laufe des Abends knallt es, und das Dessert sind Scherben! Diesmal gibt es sogar Tote. Wenn die vier Gäste des unheimlichen Paares Alfonso (grandios und frei im Umgang mit der Vorlage: Georg Nigl) und Despina (Nicole Chevalier als Komödiantin vom Feinsten!) am Ende wörtlich zu Boden gehen und Despina Alfonso erschießt, dann ist das der Schlusspunkt einer Deutung, die vom Verkleidungsspiel nur Masken übrig lässt und das Wochenende der drei Paare zu einem spannend eskalierenden Spiel um Selbstentblößung und -erkenntnis durch einen (bewussten) Partnertausch macht. Agneta Eichenholz (Fiordiligi), Claudia Mahnke (Dorabella) und ihre Männer, Rainer Trost (Ferrando) und Russell Braun (Guglielmo) sind reife Eheleute, bei denen alles mehr nach Lebenserfahrung als nach stürmischer Liebeslust bzw. entsprechendem -frust klingt. Raus kommt dabei ein zeitgemäßer Mozart, der als sinnliche Nachdenkherausforderung durchs Ziel geht.
Ein Crescendo einhelliger Begeisterung begann mit der Uraufführung von Georges Benjamins (63) einstündiger Novität „Picture a day like this“ im Théâtre du Jeu de Paume zum Libretto von Martin Crimp. Benjamin liefert ein Musterbeispiel von dichter, auf die menschliche Stimme setzender Musik voller spannender Stimmungswechsel im Einzelnen. Bei der Uraufführung folgten die 22 Musiker des Mahler Chamber Orchestra ebenso willig seinem Dirigat wie das erstklassige Protagonisten-Quintett, für das Daniel Jeanneteau und Marie-Christine Soma einen Raum von zurückhaltend karger, aber doch sinnlicher Eleganz geschaffen hatten. So märchen- wie parabelhaft geht es um eine Mutter, die ihr verstorbenes Kind zurückbekommen soll, wenn sie von einem glücklichen Menschen einen Knopf ergattert. Weder das Liebespaar oder die erfolgreiche Komponistin noch alle anderen, die sie trifft, sind aber wirklich glücklich. Und das ihr ähnliche Zauberwesen Zanella schließlich ist es nur, weil es sie gar nicht gibt. Es ist betörend zu welch klagender Dringlichkeit es Marianne Crebassa als diese verzweifelte Frau bringt; hinreißend die vokalen Höhenflüge von Beate Mordal und Counter Cameron Shahbazi mit ihren beiden Paaren; atemberaubend die Falsettausbrüche von Bariton John Brancy als Künstler und Sammler und harmonisch komplementär schließlich Anna Prohaska als spiegelbildliches Zauberwesen. Alle Partien werden hier zu einem exemplarischer Fall von in die Kehle komponierter Musik!
Auch der „Wozzeck“, den Simon McBurney im Grand Théâtre de Provence auf die Bühne brachte, wurde gefeiert. Simon Rattle und sein London Symphony Orchestra sorgten für den musikalischen Glanz von Alban Bergs Moderne-Klassiker. Die Inszenierung schafft mit wenig Mitteln den großen Effekt. Wenn am Ende der Wozzeck langsam im Bühnenboden versinkt und die Hände nach seinem Sohn ausstreckt, ist das ein ungemein anrührendes Bild. Wenn er untergegangen ist, dann bewegt sich die Rückwand der von drei Seiten begrenzten Bühne nach vorn, denn das Gefängnis des Lebens und Leidens ist nunmehr gleichsam implodiert. Die letzten kindlichen Hopp-hopp-Worte kommen nicht von dem Jungen, sondern von einer Juniorausgabe des Hauptmanns, der seinen Altersgenossen genauso piesackt (bzw. mit dem Finger pikst) wie vordem der skurril überzeichnete Hauptmann Wozzeck. Bühnengestalterin Miriam Buether assoziiert Gefängnis und Tretmühle in einem. Zum Schlafsaal oder Wirtshaus wird die sonst leere Bühne durch die Massen, die sie bevölkern. Schauplätze verwandeln sich wie von Zauberhand ineinander. Für den exemplarischen Blick in den Abgrund Mensch ist Christian Gerhaher der ideale Wozzeck! Auch um Gerhaher herum: vokaler Luxus und darstellerisches Charisma (etwa Malin Byström als Marie).
Für das Festival in Aix-en-Provence schlagen zum Auftakt zwei ganz und gar gelungene Produktionen und eine herausfordernde Referenz an den musikalischen Hausgott Mozart zu Buche.
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