Musikfest Bremen mit Fazıl-Say-Konzert: Wenn die Wunderorgel hinkt
Der Komponist Fazıl Say integriert türkische Volksmusik in sinfonische Musik. Für die Uraufführung seines Werks dient die Walcker-Orgel in Papenburg.
Diese Fragen haben den in Bamberg tätigen Organisten Christian Schmitt und den Hamburger Trompeter Matthias Höfs auf ihren gemeinsamen Tourneen oft diskutiert, und schließlich beschlossen sie: Ein Auftragswerk muss her, ein Doppelkonzert für die – schon eingeführte und beliebte – Kombination „Trompete und Orgel“, in der aber beide Solisten sind.
Ein Sponsorenehepaar hatte Höfs, Professor an der Hamburger Hochschule für Musik, bald gefunden, aber welcher Komponist kam infrage? Offen und experimentierfreudig sollte er sein, und die Wahl fiel auf Fazıl Say. Seit rund 20 Jahren integriert der Pianist und Komponist – und darin ist er Pionier – Elemente türkischer Volksmusik in sinfonische Musik.
„Ein Orgelwerk hatte er zwar noch nie geschrieben, aber er war bereit, dieses Abenteuer mit uns zu unternehmen und das Stück zu schreiben, das wir jetzt, begleitet von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, in Papenburg uraufführen“, sagt Trompeter Matthias Höfs. Wobei das Orchester ausschließlich aus Streichern besteht, denn die Bläser-Klangfarben bietet – neben der Trompete – die Orgel, eigentlich ja ein Zwitter aus Pfeifen- und Tasteninstrument.
Das Musikfest Bremen wird am 20. 8. durch die „Große Nachtmusik“ –mit Konzerten an neun Orten im Bremer Zentrum eröffnet und läuft bis 10. 9.
Barockorgeln Niedersachsen stellt das ins Musikfest integrierte Arp-Schnitger-Festival mit Konzerten u. a. in Bockhorn und Ganderkesee vor. Ein Shuttleservice ab Bremen ist eingerichtet.
Die Uraufführung von Fazıl Says Konzert für Trompete und Orgel mit Christian Schmitt und Matthias Höfs ist am 28. 8. um 19 Uhr in der Papenburger St.-Antonius-Kirche – neben Werken von Vaughan Williams, Vasks und Tschaikowsky.
Fazıl Say selbst verrät im Vorfeld nichts über sein Stück, das im Zuge des Musikfests Bremen erklingen wird. Auch Schmitt und Höfs haben es noch nicht gemeinsam geprobt. Aber wenn man die Partitur liest, „hört“ man es ja im Kopf. „Es ist ein herausforderndes Stück, mit asymmetrischen Rhythmen wie dem 9/8-Takt, dem Aksak“, sagt Organist Christian Schmitt. Aksak heißt auf Türkisch „hinken“ und ist ein Volkstanz-Rhythmus der Türkei und des Balkan. „Im Jazz würde man sagen: Groove“, findet Schmitt.
Auch Percussioninstrumente aus der traditionellen türkischen Musik hat Fazıl Say integriert – eine Darbuka und eine kleine Trommel. In den Noten habe Say oft Dinge wie „Anatolian Romance“ und „Balkan Sound“ notiert, und das sei ja das Spannende: ungewohnte Rhythmen und Motive zu erkunden, sagt Schmitt. „Und da wir diese Volksmusik-Elemente nicht auf traditionellen, sondern auf sinfonischen Instrumenten spielen, wirkt diese leichte Färbung wie ein Dialekt in der eigenen Sprache.“
Entwickelt haben Musiker und Komponist das Stück gemeinsam: „Fazıl Say hat uns große Freiheiten gelassen“, erzählt Höfs. „Er hat uns viel Vertrauen geschenkt und gesagt: Ihr kennt eure Instrumente. Ihr wisst, welche Farben und technischen Möglichkeiten ihr auch persönlich zur Verfügung habt. Ich gebe euch freie Hand, an euren Solopartien zu arbeiten und Vorschläge zu machen. Und die hat er dann auch akzeptiert.“ Eine so kooperative Haltung sei nicht selbstverständlich, sagt Höfs. „Bei Auftragswerken habe ich schon sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Komponisten gemacht.“
Außergewöhnlich ist auch die Geschichte der Orgel dieses Abends, die eigentlich aus dem Ruhrgebiet stammt. Die Stadt Gelsenkirchen leistete sich Anfang der 1920er-Jahre einen großen Mehrzweck-Gebäudekomplex – den Hans-Sachs-Bau – im Stil des damals hochmodernen Backsteinexpressionismus. Verwaltung, Läden, Bücherei, Büros, ein Café und ein 1.600 Menschen fassender Konzertsaal in einem Gebäude – auch dies war für die damalige Zeit revolutionär.
Parallel beschloss man den Ankauf einer speziell auf diesen Saal abgestimmten Orgel bei der Firma Walcker, einem der damals innovativsten Unternehmen der Branche. 1927 wurden Bau und Orgel eingeweiht, letztere von Anfang an als „Wunderorgel“ gefeiert, die die Ideen der – von Albert Schweitzer und Hans Henny Jahnn mit initiierten – Orgel-Reformbewegung umsetzte: An die Stelle des bis dato üblichen wuchtigen Romantik-Klangs trat nun die Klarheit des (Neo-)Barock. Bis heute gilt diese Walcker-Orgel – das einzige erhaltene Exemplar dieser Größe der Weimarer Republik – als wichtigste Saalorgel hierzulande. Während des Zweiten Weltkriegs lagerte man die Orgel im Emsland ein, 1949 ging sie wieder in Betrieb.
2001 beschloss der Gelsenkichener Stadtrat dann die dringend nötig Sanierung der Gebäude, gab auch die Restauration der Orgel in Auftrag. Im Laufe der Bauarbeiten zeigte sich, dass die maroden Gebäude abgerissen und neu gebaut werden mussten, und da ließ man den Konzertsaal einfach weg. Beschlossen wurde das 2007, da war die vierjährige Orgelsanierung gerade beendet. Das Argument der Politik: Inzwischen gebe es in Dortmund und Essen neue Konzertsäle, das genüge doch.
Die Mitglieder der Bürgerforums Hans-Sachs-Haus und die Fachwelt waren nicht erfreut über diesen Umgang mit der denkmalgeschützten Rarität. Auch die restaurierende Orgelbaufirma wohl nicht, die das frisch instand gesetzte Instrument nun zwölf Jahre bei sich lagern musste, weil sich keine Alternative auftat.
2017 endlich fand sich die neogotische Papenburger St.-Antonius-Kirche, groß genug für das Instrument und seinen raumfüllenden Klang. Für einen symbolischen Euro wurden die Gelsenkirchener die Orgel und ihr schlechtes Gewissen los. Die Papenburger mussten dann zwar den teuren Einbau bezahlen, aber sie brauchten ohnehin eine neue Orgel und hofften, dass nun noch mehr als die bisherigen 250.000 Touristen jährlich kommen würden, um die nun größte Orgel Niedersachsens zu erleben, die auch Teil des Kulturnetzwerks „Europäische Orgelstraße“ werden soll.
Eingebaut wurde das Instrument im Jahr 2020, geweiht dann 2021 – vom Organisten Christian Schmitt, dem Trompeter Matthias Höfs und dessen Ensemble German Brass. Nun folgt eine Uraufführung, die die Idee, die Orgel im säkularen Kontext salonfähig zu machen, auf bizarre Art umsetzt: Ausgerechnet eine Kirche wird Zufluchtsort einer berühmten Konzertorgel, der der weltliche Saal abhanden kam.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku