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Musikerin Mary Ocher im Gespräch„Lasst uns zusammenbleiben“

Mary Ocher ist russischstämmige Israelin und lebt in Berlin. Ein Gespräch über ihr neues Album und wie sie die aktuellen Kriege musikalisch verarbeitet.

„Ich habe den Nahen Osten verlassen, weil dort kein Platz für Leute wie mich war“: Mary Ocher Foto: Pietro Pontieri

wochentaz: Mary Ocher, Ihr neues Album trägt den Titel „Approaching Singularity: Music for the End of Time“. Können Sie das Kernthema der Musik skizzieren?

Mary Ocher: Wenn ich versuche, es zusammenzufassen, scheine ich dem Thema nicht ganz gerecht zu werden. Es geht um technologische Expansion jenseits des Vorhersehbaren, um Überwachung, totalitäre Regime, Paranoia und Science-Fiction. Es geht um Politik, aber die Songs handeln auch von den Verbindungen zwischen all dem oben Genannten sowie von vielen anderen Dingen.

Im Interview: Mary Ocher

Mary Ocher wurde 1986 in Moskau geboren und entstammt einer jüdischen Familie mit Wurzeln in der Ukraine. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte Ocher in Israel, wo sie eine religiöse Schule besuchte. Mit 20 zog sie zusammen mit ihrer damaligen Band The Baby Cheeses nach Berlin. In der Hauptstadt bespielte sie nicht nur viele Bühnen und Konzertsäle, sondern auch die Straßen. Heute ist sie eine bekannte Figur in der alternativen Berliner Kunst- und Musikszene – nicht zuletzt dank ihrer Rolle als Gründerin der Kunst-Plattform Underground Institute. Ihr sechstes Studioalbum ist gerade raus. „Mary Ocher: „Approaching Singularity: Music for the End of Time“ (Underground Institute)

http://www.underground-institute.com/

Was gefällt Ihnen an Science-Fiction?

Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass es eigentlich gar nicht um Science-Fiction als solche geht, sondern dass ich sie nur als Allegorie benutze: Angst vor dem Aussterben, Gier und eine Menge anderer lustiger Dinge.

Und die Musik, wie beschreiben Sie sie für Außenstehende?

Es kommt darauf an, mit wem ich spreche. Ist es jemand, der sich mit Underground-Musik auskennt oder zumindest an Kunst und Kultur interessiert ist? Oder ist es jemand mit großer Distanz sowohl zu Musik als auch zu Kunst? Ersterer Person könnte ich einige Einflüsse nennen, sagen, dass meine Musik minimalistisch und trotzdem vielfältig klingt und Genres wie Folk, Ambient, Psych-Pop, Krautrock zitiert. Zur zweiten Person würde ich sagen: Meine Musik ist politisch und schwer zu kategorisieren.

In Ihrer neuen Single „Zone“ mit Barry Burns von der Band Mogwai möchte sich ein „Kind an die Schrecken erinnern, die es in einem Kriegsgebiet erlebt hat“. Sie selbst haben als Kind den Golfkrieg in Israel erlebt. Sie schreiben in einem Statement, „Zone“ fällt „tragischerweise mit dem aktuellen Kriegszustand in meiner zweiten Heimat zusammen“. Zuvor hat Ihr Geburtsland Russland einen schrecklichen Krieg gegen die Ukraine begonnen, den Sie offen verurteilt haben. Was kann Musik in einer Welt ausrichten, die eine Kriegszone ist? Kann sie mehr Empathie schaffen?

Wenn überhaupt, dann werden Menschen, die bereits einfühlsam sind, von Musik angezogen, die in­trospektiv ist und eine gewisse Ruhe ausstrahlt. Ich mache mir keine Illusionen darüber, dass meine Musik irgendjemandem etwas Neues beibringen wird. Aber ich gehe davon aus, dass meine Zu­hö­re­r*in­nen mehr oder weniger ähnlich denken wie ich – obwohl gerade so viel Nationalismus in der Luft liegt. Ich laufe vor Nationalismus weg wie vor Feuer. Ich kann die Aufrufe zur Gewalt – von allen Seiten – oder religiöse Bekenntnisse – von allen Seiten – absolut nicht ausstehen. Für mich ist das sinnlos, ich habe den Nahen Osten verlassen, weil dort kein Platz für Leute wie mich war.

Sie sind 2007 nach Berlin gekommen. Wie hat die Stadt Ihre Musik und Ihren persönlichen Werdegang beeinflusst und was hat sich über die Jahre verändert?

Wir Außenseiter fanden hier alle ein Zuhause, die Stadt hatte ein langsames Tempo, das Experimente zuließ. Es gab reichlich Platz und andere Freaks, die hierher kamen und einen Ort suchten, der sie akzeptierte, anstatt sie zu verurteilen. Es ist aber mittlerweile keine Stadt mehr, in der junge Underground-Kultur gedeihen kann. Vielmehr ist Berlin inzwischen ein kommerzielles Zen­trum. Nur diejenigen von uns, die sich etabliert haben, konnten bleiben, die anderen mussten weiterziehen, irgendwo anders hin. Berlin ist kein Ort mehr, an den man zieht, wenn man eine junge, aufstrebende Avantgarde-Kunstschaffende ist: Es wäre zu entmutigend, um sich finanziell über Wasser halten zu können und Vollzeit in einem Bürojob zu arbeiten, der nicht das ist, wofür man hergekommen ist. Ich habe mich damit abgefunden. Eine Stadt ist etwas Lebendiges, sie verändert sich, und wir uns auch.

Die Songs drehen sich um die düstere Zukunft. Ich versuche zu analysieren, wohin sich die Dinge entwickeln

Ihre Alben greifen konzeptionelle und zum Nachdenken anregende Themen auf. Sie befassen sich immer mit politischen und philosophischen Fragen. Sie fügen Ihrer Musik stets Essays hinzu. Könnten Sie mehr zu Ihrem Schaffensprozess sagen? Beginnen Sie mit einer vorgefassten Idee, oder entwickelt sich das Konzept nach und nach?

Ich höre mir zunächst die aufgenommenen Stücke an und setze sie so zusammen, dass sich ein roter Faden ergibt. Wenn es Themen gibt, die in den Liedern nicht ausführlich genug behandelt werden können, füge ich mehr Text hinzu. Der Essay zum aktuellen Album ist eine Textsammlung über einen längeren Zeitraum – ich habe ihn immer wieder überarbeitet. Ich bin Schulabbrecherin, aber ich lese sehr viel. Es macht mir wirklich großen Spaß, mich mit Dingen zu befassen, für die ich eigentlich keine Erlaubnis habe.

Wie ist das Verhältnis zwischen Form und Inhalt in Ihrer Musik?

Schwierige Frage, denn manchmal liegt die Beschränkung in der Instrumentierung (Form) und manchmal im Text (Inhalt). Ich versuche, nicht immer auf die gleiche Weise zu beginnen oder die gleiche Methode zu verwenden, um vielfältigere Ergebnisse zu erzielen. Die Songs meines neuen Albums drehen sich um die düstere Zukunft. Ich versuche zu analysieren, wohin sich die Dinge entwickeln könnten, aber gleichzeitig ist die Musik sehr altmodisch, sie ist nicht KI-generiert. Sie ist zwar elektronisch, aber ich verwende nicht die neueste Technologie. Manche sind regelrecht besessen von ständigen Updates, den neuesten Instrumenten, der neuesten Software. Ich finde das zwar interessant, weiß aber, dass ich nie zu diesen Leuten gehören werde.

Sie haben Ihr eigenes Label gegründet, das zugleich eine Kunstplattform ist: Underground Institute. Worum geht es da?

Underground Institute begann als Booking-Agentur, aber kurz nach Gründung fing die Pandemie an. Stattdessen kuratierte das UI dann Radiosendungen. 2022 waren Konzerte wieder möglich, und wir veranstalteten letzten Dezember sogar ein dreitägiges Festival. Wir haben jetzt einen internationalen Vertrieb, der es uns ermöglicht, Musik zu veröffentlichen. Es ist einfach unglaublich, alle künstlerischen Freiheiten zu haben, kreative Entscheidungen zu treffen und alle, die man mag, mit ins Boot holen zu können.

Nennen Sie ein Beispiel.

Im April haben wir eine Charity-Compilation veröffentlicht, die Erlöse gingen ein Bildungsprojekt für Mädchen in Afghanistan. Gemeinsam mit Gudrun Gut, Xiu Xiu, Felix Kubin und vielen anderen konnten wir eine hohe Summe an die Afghan Women's Association spenden.

Was ist der Fokus allgemein?

Underground Institute ermöglicht uns, verschiedene Projekte ins Leben zu rufen, mit anderen zusammenzuarbeiten und neu entdeckte Künstler*innen, die uns gefallen, zu unterstützen. Es ist alles, was wir sein wollen, eben nicht nur ein Label oder eine Bookingagentur. Der Fokus liegt dabei auf Künstler*innen, die schwer zu kategorisieren sind, zumeist Frauen in verschiedenen Bereichen der experimentellen Musik.

Wie können wir, abgesehen vom Hören Ihrer Musik, mit dem Alltag in apokalyptischen Zeiten fertig werden?

Indem wir zusammenbleiben, zu unseren Gemeinschaften stehen und uns gegenseitig unterstützen. Alles, was das Gegenteil davon ist, allein zu sein oder sich gegen Gleichgesinnte zu wenden.

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