Musiker und Autor Kiev Stingl: Dem Wahnsinn auf der Spur

Kiev Stingl veröffentlicht sein fünftes Album. Eine Begegnung mit dem durch Punk zivilisierten Außenseiter und Eremiten des deutschen Rock.

Kiev Stingl in offenem Jackett und nix drunter läuft auf der Berliner Potsdamerstrßae, 1987

Kiev Stingl läuft entlang der Potsdamerstraße, Westberlin 1987 Foto: privat

Jahrtausende der Kultur haben … haben Euch glauben gemacht, Ihr seiet keine Egoisten, sondern zu Idealisten berufen. Schüttelt das ab!“ Max Stirner hatte diese Losung in seinem anarchistischen Klassiker „Der Einzige und sein Eigentum“ ausgegeben.

Hartnäckigster Abschüttler ist der Musiker und Schriftsteller Kiev Stingl. Sein Ego hat dabei allerdings Federn gelassen. Gerade vier Soloalben sind seit 1975 von Stingl erschienen, dazu Songs, die er für andere Künst­le­r:In­nen wie Mona Mur getextet hat, eine Handvoll Gedichtbände, Erzählfragmente und Musik für Filme von Klaus Wyborny und Heinz Emigholz, zuletzt gab es seinen Song „Einsam Weiss Boys“ im Emigholz-Film „Slaughterhouses of Modernity“ zu hören.

Heute ist Kiev Stingl dennoch der große Vergessene des deutschen Pop, vielleicht auch Faktotum, besser ein Geröllbrocken, quer zum Diskurs den Weg versperrend. Dass er überhaupt lebt, wenn auch zurückgezogen unterm Dach in Berlin-Steglitz, grenzt an ein Wunder. Er gewährt der taz ein Interview, erstaunlich auch das.

Behutsame Arrangements

Noch erstaunlicher, dass auf dem Label Klangbad nun Songs von Kiev Stingl, ursprünglich 1982 in Hamburg mit dem Keyboarder Götz Humpf begonnen und unvollendet geblieben, veröffentlicht werden: „X R I Nuit“ ist maßgeblich der Arrangements des Musikers Niklas David zu verdanken, der 1994 in Berlin mit Stingl in Kontakt getreten ist und seither behutsam Songs archiviert und in Kollaboration mit ihm dieses Album fertiggestellt hat.

Kiev Stingl: „X R I Nuit“ (Klangbad/Rough Trade)

„Ich hatte einen Instinkt, im letzten Augenblick dem Tod von der Schippe zu springen. Ein Herzinfarkt hat mich ruiniert. Die Stimme ist fast weg. Ich spreche wenig, da rostet die Stimme ein. Aber ich bin in meine Arbeit vertieft, Tag für Tag.“

Stingl, geboren 1943, erinnert sich an sein Elternhaus, an das bigotte Hamburg der 1950er und frühen 60er, an Fußballspielen und Mädchen jagen. „Meine Mutter war eine begnadete Violinistin. Als junge Frau hat sie Aufführungen in Opern gehabt. Von ihr habe ich das musikalische Talent. Während mein Vater rational ausgerichtet war. Später war er bei Unilever in Hamburg ein hohes Tier.“

Kiev Stingl, vermutlich Ende der 1960er auf einem Balkon

Kiev Stingl, vermutlich Ende der 1960er auf einem Balkon Foto: privat

Gerrard am Banjo

Mit dem drei Jahre älteren Bruder Werner verbindet Gerd, wie Kiev bürgerlich heißt, eine Liebe zur Kultur. Was bei Werner Literatur ist, drückt sich bei Kiev durch Musik aus. Er spielt Banjo in einer Jazzcombo, fliegt von der Schule. Werner macht Karriere, arbeitet in der Werbung. „Er war ein nach innen gekehrter, diplomatischer Typ. Ich das genaue Gegenteil.“

Mit 16 nannte er sich Gerrard, Gert schien ihm „zu bieder“. Der Name Kiev kam durch ein Theaterstück, verfasst um 1962, in dem Frauen und Männer Städtenamen tragen. „Damals gab es in Hamburg ein italienisches Café am Gänsemarkt, das Campari. Da bin ich reinmarschiert und sagte allen, ich heiße Kiev.“

Die Kneipe Palette, in Hubert Fichtes gleichnamigen Roman verewigt, kannte Stingl. „Die war mir zu proletarisch. Ich war damals sehr arrogant. Im Campari traf ich auf Jungs meines Alters, die Verbrecher waren und gemäß der Zeit gekleidet waren. In der Palette waren eher so Zeitgeistgegner.“

Ping im Mörser mit Flügeltüren

Etwas später, im Top Ten auf der Reeperbahn hat, Stingl auch die Beatles gesehen, aber den Zeitgeist zunächst nicht erfasst. „Ich hatte einen Freund, Graf Alexander von Bismarck, genannt Ping, mit dem ich im Mercedes 300 SEL mit Flügeltüren rumgekurvt bin. Wir hatten die Bands im Top Ten als Knechte empfunden, die für uns Musik machen, damit wir tanzen können. Es war noch keine Beziehung zum angloamerikanischen Pop. Ich habe damals Chansons gehört und Jazz.“

Stingl überträgt Chansontexte ins Deutsche. In der Zeit der Studentenrevolte fällt ihm seine „bourgeoise Herkunft vor die Füße“. Politik habe er als Abenteuer verstanden, erklärt Stingl, studierte einige Semester Politologie und Ethnologie, bricht wieder ab. Er habe ein Denkmal des Kolonialherrn Wissmann am Dammtor mit Farbe beschmiert, anderweitig engagiert war er nicht.

„An kollektiven Projekten war ich nie interessiert, ich blieb Einzelgänger.“ In Momenten von Verzweiflung beginnt er Ende der 1960er auf Deutsch zu texten. Durch Vermittlung seines Bruders wird der Musiker Achim Reichel auf ihn aufmerksam. 1975 erscheint mit dessen Hilfe Stingls Debütalbum „Teuflisch“. Zum Dank schreibt Kiev Stingl für Reichel immer wieder Songs.

Er singt so teuflisch

Im Titelsong heißt es „Du bist so teuflisch / Vielleicht schenke ich dir den Ozean / Vielleicht schenke ich Dir Aga Khan“. Windschiefe Rocksongs mit sparsamer Poesie, das war dem Hippiemainstream damals zu karg, das passte nicht zum progressiven Gedudel der mittleren 1970er. Rimbaud und Rolf Dieter Brinkmann nennt Stingl als wichtigste lyrische Impulse.

Stingls eigene poetische Leistung wurde damals ignoriert. Nach Veröffentlichung von „Teuflisch“ gab es ein Meeting beim Label Phonogramm, Stingl saß neben dem Komiker Mike Krüger. „Die wollten mir Kommerz aufschwatzen, da habe ich gedacht, die Scheiße mach’ ich nicht mit.“

Im Hamburger Karolinenviertel zwischen der Kneipe Marktstube und der Buchhandlung Welt führte Stingl zunächst bei Lesungen „Lieder des Maldoror“ auf, Songs, die er Lautréamont ablauschte. Ein bisschen Exorzismus und Berauschung an sich selbst sei das gewesen. Anders als die Agitprop-Texte der Scherben und Lindenbergs angetörntes Gesäusel klang Stingl da schon gefährlicher, machistischer, aber auch existenzieller.

Greifvogel kackt im Sturzflug

Der taumelnde Beweis, dass Eigenbrötler im Rock existenzberechtigt sind. „Ich bin der windgestörte Geier, der im Sturzflug auf eure Köpfe kackt“, hieß es 1974 in einem Text von Stingl, der in der Zeitschrift „für neue Literatur“, Boa Vista, abgedruckt war.

Man habe sich damals beim Kicken an der Außenalster getroffen und über die Leidenschaft für Fußball gemeinsame Kunstinteressen entdeckt, erzählt der Filmemacher und Mitherausgeber Klaus Wyborny. Er erinnert sich an Kiev Stingl als gute Type. Stingl erinnert sich wiederum an Wybornys damalige Lebensgefährtin, die US-Autorin Marcia Bronstein, die die verschiedenen Beitragenden mit Filmen, Musik und Undergroundliteratur fütterte.

Überhaupt die Frauen. Stingl, sagt ein Zeitzeuge, sei ein Chauvi gewesen und erst durch Punk zivilisiert worden. Stingl selbst sieht es anders: „Frauen habe ich als Wesen empfunden, deren zwei Seiten mich faszinieren. Einerseits ihre Fähigkeit, Männer zu verzaubern, andererseits ihre Hinterhältigkeit, Männer, wenn sie sich nicht nach ihrem Willen richten, wie begossene Pudel stehen zu lassen.“

Hart wie Mozart

Stingls zweites Album, „Hart wie Mozart“, 1979 erschienen, ist bis heute sein bekanntestes Werk. Das liegt auch am Cover, das mit der orangefarbenen Rahmung des Spiegel versehen war, woraufhin ihn das Nachrichtenmagazin verklagte. Damals begleitete ihn für eine Weile die Band Sterealisa, junge, am Punk geschulte Hamburger Musiker, unter ihnen Holger Hiller.

Stingl inszeniert sich in den Songs als surrealistischer Dandy und hechelnder Erotomane, dem Wahnsinn immer auf der Spur: Brian Ferry mit mehr Rawumms und weniger Galanterie; eine Lachmöwe, die mit Widerspruchsgeist durch die Republik segelt und in den guten Stuben Alarm auslöst. Velvet ­Underground habe er viel gehört, gesteht Stingl. In seinen eigenen Songs klingt es weniger cool und lange nicht so abgeklärt.

Als Punk über Westdeutschland fegt, war Kiev Stingl schon wieder Randerscheinung, nicht linientreu genug für die Hardliner und zugleich zu unzuverlässig für den Mainstream.

Verständnislose Kritiken

Eine Tournee hatte er bestritten 1980, die Kritiken zumeist verständnislos. 1982 tauchte Stingl frustriert ab und in Madagaskar wieder auf. Für ein Filmprojekt kam er auf die Insel, wollte Medizinmänner befragen, wurde im Drogenrausch verhaftet und nach Frankreich abgeschoben.

Von da ab ging’s bergab. 1985 hatte er sich fast zu Tode gesoffen, war in Französisch-Guyana gestrandet, dann in Rio de Janeiro, bis er dem Alkohol entsagte. In Westberlin machte Stingl einen Neuanfang, veröffentlichte zwei weitere Alben, 1981 und 1987, Zeugnisse eines unsteten, von Brüchen gekennzeichneten Künstlerlebens, aus dem keine Karriere zu machen war.

Als Erzähler bleibt Kiev Stingl unzuverlässig, Begebenheiten verschwimmen. Er ringt manchmal nach Worten, aber, sagt er, er habe einen Roman fertiggestellt, an dem er 20 Jahre geschrieben hat. „Ich bin am Schöpferischen interessiert.“ Und dann sind da diese gespenstischen, eiskalten Momente von „X R I Nuit“. In dem Song „Spiel den Brief“ erwähnt er beiläufig den englischen Schriftsteller Malcolm Lowry. Auch so ein Unbehauster, wie Kiev Stingl.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.