Multikulti-Presse: Lyrik vom Feinsten
■ Teil 2 der Serie über Immigrantenmedien in Deutschland. Heute: die türkische Siir-lik
Der Redaktionstreff ist ein Steglitzer Klassenzimmer. Eine Thermoskanne Pfefferminztee und aktuelle türkische Literaturzeitschriften machen die Runde. „Wie sagt man eigentlich creative writing auf türkisch?“ fragt einer, während yeni Mehmet, der „neue Mehmet“, seinen Entwurf einer Trakl-Übersetzung für das nächste Heft weiterreicht. „Bis ich Gültekin kennenlernte, habe ich immer nur für mich geschrieben“, meint er. „Mehmet ist Gültekins Meisterschüler“, erklärt Bülent Can von der anderen Seite des Tisches. „Er hat gezeigt, daß man das Übersetzen lernen kann.“
Der Meister ist Gültekin Emre, der türkische Dichter aus Konya, der früher Majakowski ins Türkische übersetzt hat, selbst sechs preisgekrönte Gedichtbände schrieb – „Liebe und Miniaturen“ erschien auch auf deutsch –, der in angesehenen türkischen Zeitschriften Essays, Literaturkritiken und Gedichte veröffentlicht und der seit 1980 als Hauptschullehrer in Berlin-Steglitz lebt. Gültekin Emre ist zum Vorbild und Mentor einer kleinen Gruppe türkischer Lyriker und Übersetzer der zweiten Einwanderergeneration geworden. Vor sieben Jahren begann alles als Sprachkurs beim türkischen Studentenverein BTBTM, später beim sozialdemokratischen Verein HDB.
Mittlerweile ist das Projekt als Schreibwerkstatt „Junge türkische Lyrik in Berlin“ bei der Volkshochschule Steglitz integriert und hat sich mit Siir-lik („Poetentum“ oder „Dichtkunst“) ein eigenes Medium geschaffen. Einmal monatlich widmet sich die kleine Zeitschrift seither Schwerpunktthemen internationaler Lyrik wie Paul Celan, André Breton, Expressionismus, konkrete Poesie, Farben, Erotik und Dadaismus. Immer anspruchsvoller sind vor allem die Übersetzungen ins Türkische geworden, und längst ist das kleine Liebhaberblättchen zur angesehenen Literaturzeitschrift avanciert, für die auch bekannte Autoren wie Murathan Mungan und Zafer Șenocak schreiben. Den Druck der 650 Exemplare finanziert der Berliner Hitit-Verlag, den Versand an Literaten, Verleger und Journalisten vor allem in der Türkei die Volkshochschule Steglitz.
„Beim Übersetzen bewegt man sich in zwei Welten“, meint Mehmet. „Kein einziges Wort kann man richtig übersetzen. Aber Übersetzen ist das genaueste Lesen!“ Martin Greve
Redaktionsadresse: Gültekin Emre, Mudrastraße 34, 12249 Berlin, Tel.: 030-7755799
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen