Multikonzern im öffentlichen Raum: Amazon macht dicht

Eine Forscherin wird am Firmenstandort Winsen des Geländes verwiesen. Doch wo das Privatgrundstück aufhört und öffentlicher Boden beginnt, ist unklar.

Viele der Saisonarbeiter*innen sind Migrant*innen Foto: Katharina Schipkowski

WINSEN taz | Für globale Multikonzerne wie Amazon, Siemens oder Google können banale Dinge wie Bushaltestellen zum Problem werden. In ihren Logistikzentren arbeiten oft Tausende Menschen im Schichtbetrieb – endet eine Schicht, müssen die Mitarbeiter*innen irgendwie nach Hause kommen oder mindestens zum nächsten Bahnhof.

Den teils schon überlasteten kommunalen Verkehrsbetrieben will man ungern Tausende zusätzliche Fahrgäste zumuten – sofern sie die entlegenen Gewerbegebiete überhaupt anfahren. In San Francisco chartern die Hightech-Unternehmen eigene luxuriöse Busse, um ihre Mitarbeiter*innen ins Silicon Valley zu bringen.

In Winsen an der Luhe geht es nicht ganz so glamourös zu. Dafür muss sich der Versandriese Amazon nun wegen einer Bushaltestelle mit einer Wissenschaftlerin streiten. Sabrina Apicella, Sozialwissenschaftlerin an der Leuphana-Universität Lüneburg, wollte Anfang November mit zwei Kolleginnen Fragebögen an der Bushaltestelle vor dem Logistikzentrum verteilen. Das passte Amazon offenbar nicht.

„Eine Mitarbeiterin kam auf uns zu und untersagte uns, weiter Fragebögen zu verteilen“, schildert Apicella. Sie habe sie und ihre Kolleginnen des Geländes verwiesen – und ihnen untersagt, die Buslinie zu nutzen.

Wem gehört die Bushaltestelle?

Aber mit welchem Recht kann Amazon jemandem verbieten, den öffentlichen Nahverkehr zu benutzen? Schließlich ist eine Bushaltestelle öffentlicher Grund. Sollte sie zumindest. Im Fall von Amazon ist das nicht ganz eindeutig.

Die Linie 4705 verkehrt ausschließlich zwischen den Stationen Bahnhof ­Ashausen, Bahnhof Winsen und Winsen Amazon. Damit gilt sie als Werkverkehr und darf nicht von Stadt und Landkreis bezuschusst werden. Denn das wäre eine versteckte Subvention, ein Verstoß gegen die Wettbewerbsfreiheit innerhalb der EU. Die Linie wird deshalb zwar von der Kraftverkehr GmbH (KVG), dem kommunalen Busunternehmen, betrieben, bezahlt wird sie aber von Amazon. Und von den Mitarbeiter*innen, durch ihre Tickets für den Hamburger Verkehrsverbung (HVV), dem die KVG angehört. Allerdings startet die Linie ja am Bahnhof, also auf öffentlichem Grund. Also doch ein Entgegenkommen der Stadt an Amazon.

Auch mit der Haltestelle direkt am Logistikzentrum ist es kompliziert: Sie liegt auf dem umzäunten, privaten Betriebsgelände, ist aber eine öffentliche Haltestelle, eingerichtet von der KVG. Wer hat dort das Hausrecht? Das können Stadt und Landkreis nicht zweifelsfrei sagen.

„Die Haltestellen an den Bahnhöfen sind öffentlich, aber die am Logistikzentrum befindet sich auf dem Firmengelände und ist damit logischerweise keine öffentliche Haltestelle“, sagt der Sprecher der Grünen-Stadtratsfraktion, Bernd Meyer. „Da die Haltestelle auf dem Betriebsgelände ist, hat Amazon das Hausrecht“, sagt KVG-Sprecher Oliver Blau. „Die Haltestelle gehört der KVG“, sagt hingegen die Sprecherin des Landkreises, Katja Bendig. „Die Haltestelle ist auf dem Firmengelände und wir erlauben den Fahrgästen selbstverständlich das zweckgebundene Ein- und Aussteigen oder Warten“, sagt der Amazon-Sprecher Michael Schneider.

In Seattle/Oregon hat der weltgrößte Versandhändler Amazon seinen Hauptsitz.

In Deutschland betreibt Amazon 13 Logistikzentren.

Im Norden soll zu jenem in Winsen noch eines in Achim bei Bremen hinzukommen. Im Oktober wurde die Baugenehmigung erteilt. Zuvor hatten Anwohner*innen dagegen protestiert, weil sie eine zu große Verkehrsbelastung befürchten.

In Winsen fertigen auf einer Fläche von 64.000 Quadratmetern rund 1.800 Menschen täglich über 100.000 Pakete ab. Die meisten sind befristet beschäftigt. Für die Vorweihnachtszeit kommen Hunderte Saisonkräfte hinzu.

Greenpeace-Aktivist*innen hatten im Juli das Dach des Winsener Logistikzentrums besetzt, um gegen die Vernichtung zurückgegebener Waren bei Amazon zu protestieren.

Für Apicella ist die Lage alles andere als unklar: „Es ist für mich keine Frage, ob eine vom HVV ausgewiesene Buslinie und die dazugehörige Bushaltestelle öffentlich sind – ich wäre nicht darauf gekommen, für eine Umfrage an einer Bushaltestelle um Erlaubnis zu bitten“, sagt sie. Ihr Verdacht: „Amazon möchte nicht, dass ohne sein Einverständnis geforscht wird.“

Nachdem sie des Geländes verwiesen worden war, habe sie Kontakt mit dem Management von Amazon aufgenommen. Das Management habe den Fragebogen sehen wollen. Sie habe ihn vorgelegt, danach habe Funkstille geherrscht – bis zu einer Anfrage der taz an den Versandhändler. Kurz darauf bekam die Wissenschaftlerin die Antwort: Man könne „ausnahmsweise einer begrenzten Nutzung der Bushaltestelle auf unserem Firmengelände für Ihre Forschungstätigkeiten zustimmen“. Sie könne sich zwei bis drei Zeitslots von bis zu zwei Stunden aussuchen.

Die Frage, was öffentlich ist und was privat und was dort jeweils erlaubt ist, ist im Zusammenhang mit dem Unternehmen schon mehrfach aufgetaucht. Im Streit etwa, ob Arbeitnehmer*innen auf einem Firmenparkplatz in Pforzheim streiken dürfen, musste ein Gericht zwischen dem Hausrecht des Arbeitgebers und dem Streikrecht der Arbeitnehmer*innen abwägen. Das Bundesarbeitsgericht entschied im November 2018 zugunsten der Streikenden.

Zudem ist Amazon nicht gerade für gute Arbeitsbedingungen bekannt. Jeder Arbeitsschritt werde überwacht, kritisieren Mitarbeiter*innen immer wieder. Viele Arbeitsverhältnisse seien befristet. Der Konzern lehnt Tarifverträge ab.

Unter anderem das macht Amazon auch als Forschungsobjekt interessant. „Es kommen zahlreiche Themen von öffentlichem Interesse zusammen“, sagt Apicella: „Migration und Saisonarbeit, der Einsatz von Technologie und Software“ seien nur ein paar Beispiele.

Mit ihren Fragebögen versucht die Wissenschaftlerin herauszufinden, wie es den vielen Saisonarbeiter*innen ergeht, die Amazon in der Vorweihnachtszeit beschäftigt. Viele von ihnen sind Migrant*innen. Amazon habe gezielt in Geflüchteten-Unterkünften um Arbeitskräfte geworben. Für den Konzern könnte das praktisch sein: Als eine der verwundbarsten Gruppen auf dem Arbeitsmarkt dürften sie sich nicht so schnell beschweren wie andere.

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