Münchner Chaosverein: Das Griechenland der Zweiten Liga
1860 München ist nach dem Rücktritt seines Präsidiums geschockt: Der Investor darf nicht entscheiden, die Verantwortlichen misstrauen sich.
Dieser Verein ist für viele ein Rätsel, noch viel größer als der Verbleib des Bernsteinzimmers oder die bayerische Energiepolitik. Wie zum Hoeneß kann ein Verein, der fast in die Dritte Liga absteigt, bei den beiden letzten Heimspielen zusammengezählt über 120.000 Zuschauer ins Stadion locken? Wieso produziert ein unterdurchschnittlicher Zweitligist mehr Schlagzeilen als Real Madrid? Warum wäre fast der große Felix Magath freiwillig zu den Löwen gekommen? Und wer ist eigentlich gerade Präsident?
Fragen über Fragen. Der ehemalige Löwenpräsident Karl Heckl hat mal gesagt: „Ich bin der Einzige, der durch 1860 zum Millionär wurde. Vorher war ich Milliardär“. So ist Sechzig.
Die letzten Tage haben alles geboten, was die Löwen so draufhaben an Chaos, Intrigen, Sensationen: Erst die dramatische Rettung in der Nachspielzeit des Relegationsspiels gegen Kiel. Dann gab es Fan-Demos gegen Sportchef Gerhard Poschner, der den absurden Rumpelkader zusammengekauft hatte.
Rettung mit 18,60 Millionen Euro
Als Nächstes vermeldete die Presse das Ende von Poschner und dass der Einstieg von Magath als Trainer und Manager unmittelbar bevorstehe. Die Münchner Medizinballhändler rieben sich schon die Hände. Und schließlich kam am vergangenen Wochenende der spektakuläre Rücktritt von Präsidium und Vereinsbeirat, weil man sich mit dem „Investor“ Hasan Ismaik nicht über die Vereinspolitik einigen konnte.
Diese rustikale Figur aus 1001 Nacht kam eines Tages aus dem Nichts und rettete den Verein mit 18,60 (!) Millionen Euro vor der Insolvenz. Weil sich Ismaik aber nur etwa einmal im Jahr materialisiert und nach München kommt, nehmen manche sogar an, der angebliche „Scheich“ sei in Wirklichkeit ein Laiendarsteller aus Katar oder Taxifahrer aus Kairo. Ismaik besitzt 60 (!) Prozent der Anteile des Clubs, aber nur 49 Prozent davon sind stimmberechtigt, wie es die DFL-Statuten vorgeben. Sprich: Der Verein hat das letzte Sagen.
Ismaik hat bei seinem Einstieg vermutlich damit gerechnet, dass er – wie die Club-Scheichs in der englischen Premier League – das große Sagen hat. Mit der Münchner Weißwurstkakophonie hat er nicht gerechnet. Vertreten wird Ismaik in München durch einen sogenannten Statthalter, seinen Cousin Noor Basha, einen gelernten Pharmazeuten, der als Aufsichtsrat, Beirat und Scout reüssiert. Noor Basha ist vor allem durch Twitterbotschaften aufgefallen wie: „Wenn irgendjemand plant oder geplant hat, uns aufzuhalten, können wir ihn in einer Sekunde vernichten“.
Ismaik und Basha halten (warum auch immer) ihre schützende Hand über Sportchef Poschner, den das Präsidium längst entlassen wollte. Weil sich aber keiner mit dem Investor anlegen möchte, aus Angst, der Verein gehe dann sofort pleite, ist nur der völlige Stillstand eingetreten. Ismaik darf nicht, der Verein traut sich nicht, zu entscheiden. Sechzig ist schockgefrostet. Und so ist der neue Trainer der alte, Torsten Fröhling, eine sympathische, etwas überforderte Sparlösung.
Warten auf den TSV Kottern-St. Mang/Durach
Neuzugänge gibt es bislang überhaupt keine (zum Glück, denken manche, wenn sie an die 13 Fehleinkäufe von Poschner denken), stattdessen wird Tafelsilber wie Jungstar Julian Weigl (an Borussia Dortmund) und US-Nationalspieler Bobby Wood (an Stuttgart?) verhökert.
Die wichtigste Meldung auf der Vereinshomepage ist am Montag eine Countdown-Uhr: Noch 1 Tag, 7 Stunden, 49 Minuten und 29 Sekunden …! Bis was passiert? Neuer Präsident? Neuer Investor? Implosion? Insolvenz? Nein, bis zum großen Freundschaftsspiel gegen den TSV Kottern-St. Mang/Durach aus der Landesliga Südwest, ein echter Knaller!
Und das Leiden geht weiter. So wie es die Fans lieben. Diese Telenovela will jeder sehen, diese amüsante Mischung aus Lachnummer und gelebtem Sadomasochismus. So oft, wie sich 1860 schon selbst ins Knie geschossen hat, ist sogar die künstliche Kniescheibe schon durchlöchert. Aber 1860 ist die letzte Konstante in einer beliebigen Welt, denn auf eins kann man sich verlassen: Das Licht am Ende des Tunnels ist bei 1860 immer ein Zug.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Serpil Temiz-Unvar
„Seine Angriffe werden weitergehen“