Münchener Restaurant rettet Lebensmittel: Erst die Avocado, dann die Welt
In ihrem Restaurant in München tischt Güneş Seyfarth Lebensmittel auf, die sonst aussortiert würden. Nur so, sagt sie, lässt sich das Klima retten.
Die Gerichte stehen liebevoll mit verschiedenfarbigen Kreiden aufgeschrieben auf der Tafel hinter dem Tresen der Community Kitchen. Mit allen notwendigen Informationen – vegan, laktosefrei, glutenhaltig et cetera. Auch die recht manierlichen Preise stehen hier: 5,50 Euro für ein Hauptgericht, 2,50 für ein Stück Kuchen. Aber die besonderen Zahlen liest man in Hellgrün in einer Spalte am Rand neben den einzelnen Speisen, es sind Prozentangaben: 95 Prozent für die Eier, 96 für die Bowl, Spitzenreiter ist mit 98 Prozent das Sandwich, die Kuchen kommen nur auf 65 bis 75 Prozent. Über der Spalte die ominöse Abkürzung „RQ“.
Günes Seyfarth
Immer wieder werden Aicha Aridi und Mohamed Dakar, die das Essen ausgeben, von den Gästen gefragt, was es mit diesen Zahlen auf sich hat. „RQ“, das steht für Rettungsquote, heißt: Die Cous-Cous-Bowl etwa besteht also zu 96 Prozent aus geretteten Lebensmitteln. Das, was hier in München-Neuperlach seit ein paar Wochen geschieht, ist Foodsharing im großen Stil – und wenn es nach Güneş Seyfarth, der Initiatorin der Community Kitchen, geht, ist es nur der Anfang.
Es ist ein außergewöhnliches Lebensmittelrettungsprojekt, das Seyfarth hier im Münchner Südosten in kürzester Zeit aufgezogen hat: „Auch du kannst das Klima retten – indem du aufisst, was eh schon da ist!“ lautet der Leitsatz, der in großen Buchstaben auf der Website der Community Kitchen prangt. Und das, was eh schon da ist, das tischen Seyfarth und ihr Team jetzt eben auf.
Im Großen: Jährlich werden laut Welthungerhilfe 1,3 Milliarden Tonnen Nahrungsmittel verschwendet – 12 Millionen davon in Deutschland, was einem Gegenwert von 25 Milliarden Euro entspricht. Einen besonders hohen Anteil daran hat die Außer-Haus-Verpflegung mit 1,7 Millionen Tonnen im Jahr.
Im Kleinen: Den größten Anteil daran haben jedoch die privaten Haushalte. Laut einer Studie des Thünen-Instituts entstehen dort 52 Prozent der Lebensmittelabfälle, das sind rund 75 Kilo pro Kopf und Jahr.
Im Süden: In Entwicklungsländern findet ein Großteil der Lebensmittelverluste auf dem Weg zum Verbraucher statt. Bis zur Hälfte der Nahrungsmittel verdirbt bereits unterwegs wegen mangelhafter Lagerhaltung und logistischer Schwierigkeiten.
168 Tonnen Lebensmittel landen im Münchner Hausmüll
Neuperlach, Münchens größte Trabantenstadt, mit der man nach dem Krieg dem Wohnungsmangel trotzte. Auch das größte Einkaufszentrum der Stadt befindet sich hier, nur ein Steinwurf entfernt. Und einige Bürogebäude. In einem davon hat Seyfarth am 1. Februar gemeinsam mit ihrer Partnerin Judith Stiegelmayr das Restaurant eröffnen.
Je nach Lesart, sagt Seyfarth, sei Lebensmittelrettung die wirksamste oder zumindest drittwirksamste Maßnahme für den Klimaschutz. 168 Tonnen verzehrfähiges Essen landeten allein in München im Hausmüll. Jeden Tag. Lebensmittel würden jedoch schon zuvor auf allen Produktionsstufen vernichtet. „Der Bauer holt ja nicht einmal alles vom Feld rein, bei der Weiterverarbeitung wird dann wieder aussortiert, weil die Kartoffeln zu klein, zu groß, zu irgendwas sind“, schildert Seyfarth die Situation, „im Großmarkt wird wieder Ware weggeworfen, und im Supermarkt schließlich bleibt vieles liegen, weil der Kunde nur das nimmt, was aussieht wie auf dem Werbeplakat.“
Der erste Weg führt Seyfarth und ihre Mitstreiter deshalb jeden Tag, frühmorgens, in die Großmarkthalle, wo sie palettenweise Lebensmittel retten, für die die Händler sonst keine Abnehmer mehr finden. Anderes kommt auch direkt von Bauern oder verarbeitenden Betrieben, Molkereien zum Beispiel oder Großbäckereien. Wählerisch sein gilt nicht, gekocht wird, was in der Küche landet. Und dort stapeln sich gerade in den Kühlräumen Kisten voll mit Kartoffeln, Avocados, Papayas und jeder Menge anderem Obst und Gemüse. Auch Maisgrieß gibt es aktuell im Überfluss. Dazu kanisterweise Bohnen in Tomatensoße und tiefgefrorenen Fleischersatz ohne Ende. Es gab zuletzt viel Chili sin Carne.
Der Rest ist Tierfutter
Natürlich gibt es auch Zutaten, die zugekauft werden müssen: Mehl und Zucker beispielsweise. Auch Fleisch gibt es bislang nur selten auf der Speisekarte. Man ist zwar im Gespräch mit Metzgereien, aber noch fehlt ein passendes Auto, um die Kühlkette beim Transport aufrechtzuerhalten.
Ein fest angestellter Koch kümmert sich mit Praktikantinnen und freiwilligen Helfern um die eingehenden Produkte: Sie werden nach Verzehrbarkeit sortiert, gewaschen, kleingeschnitten und verkocht. Obst und Gemüse, das tatsächlich nicht mehr frisch ist, wird geht an den Tierpark.
Güneş Seyfarth hat sich auf die Eckbank am hintersten Tisch im Gastraum der Community Kitchen gesetzt, einen Cappuccino bestellt. Der Kaffee gehört zu den wenigen nicht geretteten Lebensmitteln, die es hier gibt. „Güneş“ ist türkisch und bedeutet Sonne. Das erzählt Güneş Seyfarth oft, wenn sie sich vorstellt; ihre Mails beendet sie mit „sonnigen Grüßen“. Die 41-Jährige ist keine, die sich so schnell abschrecken lässt, auch wenn der Ausgang eines Projekts ungewiss ist. „Ich habe sowieso viel mehr Freude am Weg, an der Problemlösung, als am Ergebnis selber“, sagt sie. Ihr falle manchmal auf, dass viele Menschen erst ihre Zeit für etwas investierten, wenn sie sich auch sicher sind, dass es etwas werde. „Bei mir ist es eher so: Ich weiß, wenn ich meine Zeit nicht investiere, wird es nichts. Also investiere ich sie.“
Eine Foodtruckaktion brachte sie auf die Idee
So wie damals mit der Kita. Seyfarth, Nürnbergerin, Ausbildung zur Tanzlehrerin, BWL-Studium, war gerade zum ersten Mal Mutter geworden – und hatte keinen Kita-Platz für den Sohn. Und da Kita-Plätze in München ähnlich leicht zu bekommen sind wie bezahlbare Wohnungen, gründete sie eben selbst eine Kita. Wenn sie das erzählt, klingt das ein bisschen wie: Uns ist die Milch ausgegangen, also bin ich schnell zum Laden runter und habe eine geholt. Natürlich war es nicht so einfach, ein monatelanger Kampf gegen die Mühlen der Bürokratie, aber am Ende erfolgreich. Das Ergebnis: die Elterninitiative Karl & Liesl. Es gibt sie noch immer, inzwischen sind zur Krippe ein Kindergarten und ein Hort dazugekommen, über hundert Kinder werden dort täglich betreut. „Es gibt einen Satz den ich in dieser Zeit gelernt habe: Geh so weit, wie du sehen kannst, und wenn du da bist, kannst du weiter sehen.“
Eine Online-Plattform zum Kauf und Verkauf von Kinderkleidung war die nächste Gründung; es folgten eine Startup-Beratung und weitere Projekte.
Seit zehn Jahren rettet Güneş Seyfarth Lebensmittel. Ein Freund hatte sie auf die 2012 in Köln gegründete Foodsharing-Initiative aufmerksam gemacht, sie schloss sich an, gründete den Münchner Foodsharing-Verein mit. 2019 organisierte sie in Zusammenarbeit mit dem bayerischen Ernährungsministerium eine Foodtruckaktion, bei der an verschiedenen Orten in der Stadt gerettete Lebensmittel verkocht und an Passanten verschenkt wurde. Die Leute waren begeistert. Damit war das Konzept für die Community Kitchen eigentlich schon geboren. Und als Ende 2020 der Immobilienkonzern Hines Ideen für eine sinnvolle Zwischennutzung des Bürokomplexes in der Fritz-Schäffer-Straße für drei bis fünf Jahre suchte, stand Seyfarth mit der ihren gleich auf der Matte.
Früher wurden hier 2.500 Essen ausgegeben
Es ist das ehemalige Allianzgebäude, in dem die Community Kitchen ins Leben gerufen wurde. Genauer gesagt: der ältere von zwei Gebäudekomplexen. Während der jüngere nebenan gerade aufwendig saniert wird, wünscht sich der Eigentümer für das alte Haus eine Nutzung, die der Allgemeinheit zugute kommt – bis es in einigen Jahren voraussichtlich einem Neubau weichen soll.
Der Versicherungskonzern ist Ende 2020 hier ausgezogen, am Eingang befinden sich noch die Drehkreuze und Zeiterfassungsgeräte, die die Angestellten früher passieren mussten. Auch im übrigen Haus breitet sich Seyfarth längst mit ihren Ideen aus. Vom Secondhandmode-Laden über die Fahrradwerkstatt bis zum Künstlercafé, von der Lernothek bis zu diversen Werkstätten gibt es hier ein vielfältiges, noch immer wachsendes Angebot.
Kern des Ganzen bleibt freilich die Community Kitchen in der ehemaligen Kantine. 2.500 Essen sollen hier früher täglich ausgegeben worden, 30 Köchinnen und Köche im Einsatz gewesen sein. Entsprechend groß und in vielen Teilen ungenutzt ist noch die Küche. Rund 50 Essen verkauft die Community Kitchen heute pro Tag; Seyfarth hofft, möglichst bald auf 100 zu kommen. Die Kundschaft ist bunt gemischt, kommt beispielsweise in der Mittagspause aus den nahen Büros.
Weltrettung im Glas
Um noch mehr Lebensmittel retten zu können und die Möglichkeiten der Großküche auszunutzen, wird allerdings nicht nur für die Gäste hier im Haus gekocht: Gläser mit Eintöpfen, Ratatouille, Marmeladen sollen demnächst in den Münchner Supermärkten stehen, Kitas, Schulen und Unternehmen mit Catering versorgt werden. Und Schulkinder können sich dann zwischen 7 und 8 Uhr ein „Schulbrot mit Frischekomponente“ abholen.
Seyfarth ärgert es, dass das Thema Lebensmittelverschwendung trotz seiner enormen Bedeutung so wenig Aufmerksamkeit bekommt. Wenn Aktivistinnen und Aktivisten jetzt Autobahnen und Flughäfen blockieren, hat sie Verständnis dafür. „Meine Art ist es nicht, aber jeder macht das, was er kann.“ So wie sie.
Und dabei bloß nie stehenbleiben.
Ihr Ziel, sagt Seyfarth, sei es, dass es in acht Jahren 4.500 Community Kitchens weltweit gebe. Ein ambitioniertes Ziel. Aber wieso ausgerechnet 4.500? Mit 9.000 Community Kitchens, so habe man berechnet, könne man den 5,2 Milliarden Menschen, die in Städten lebten, eine Alternative zur Lebensmittelverschwendung bieten. Zumindest die Hälft wolle man bis dahin erreichen. Anders lasse sich der Klimawandel schließlich nicht aufhalten. Unter der Rettung der Welt macht’s Güneş Seyfarth nicht.
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