Motive der Pariser Attentäter: Was machte sie zu Massenmördern?
Die meisten Täter der Pariser Anschläge sind identifiziert, ihre Beweggründe werden klarer. Geeint hat sie die Geltungssucht ihres Anführers.
Die Barbarei bekam Gesichter und Lebensläufe. Verständlicher wurde dieser Massenmord deswegen nicht.
Nicht in jedem Fall weiß man mit Sicherheit, welche Begegnung mit einem Hassprediger irgendwann den Ausschlag gegeben haben muss und den Beginn eines Abdriftens in die Einbahnstraße des tödlichen Fanatismus darstellte. Nichts – weder ihre Herkunft, ihre individuelle Geschichte oder ihre Betroffenheit durch kollektive soziale, kulturelle, postkoloniale oder religiöse Diskriminierungen – kann auch nur ansatzweise als Entschuldigung oder mildernder Umstand betrachtet werden. Ebenso unverantwortlich sind die „Kurzschlüsse“ bei der pauschalen Schuldzuweisung, wenn beispielsweise radikaler Islamismus und Islam leichtfertig in einen Topf geworfen werden.
Wie so oft finden sich im Lebenslauf dieser jungen fanatisierten Terroristen, die als Kanonenfutter für den „Dschihad“ dienten, bereits bekannte Schemata: Dazu gehört eine schwere Jugend in einer kinderreichen und meist nicht sehr gläubigen muslimischen Immigrantenfamilie aus Algerien oder Marokko in einem perspektivlosen Vorort der französischen „Banlieue“. Dazu gehört Schulversagen, erste Delikte und Aufenthalte auf dem Polizeiposten oder im Gefängnis.
Plötzlich und unbemerkt radikalisiert
So sieht in etwa auch bei den Antiterrorbehörden das klassische Profil der Jungen aus, die sich aus unterschiedlichsten Gründen und Umständen plötzlich und oft auch völlig unbemerkt radikalisieren. Gibt es überhaupt Gemeinsamkeiten in der Vorgeschichte der Täter, außer der Tatsache, dass alle am Ende bereit waren, sich vom mutmaßlichen Drahtzieher Abdelhamid Abaaoud für einen terroristischen Massenmord in Frankreich rekrutieren zu lassen?
Schon von den Attentätern, die Mitte der 90er Jahre im Namen des algerischen GIA mit Bomben in Verkehrsmitteln Frankreich terrorisierten, sprach man von einem neuen Lumpenproletariat. Im Dschihad fanden sie eine Form der Revolte gegen ein System, das ihnen keinen gebührenden Platz und keine Zukunft gewährte.
Dem Profil jener, die gesellschaftlich marginal, mehrfach straffällig geworden, voller Hass und manipulierbar sind, entsprach auch Omar Ismael Mostefai, einer der Mörder im Bataclan. Er kam im Vorort Courcouronnes auf die Welt. Wie andere Jungen seines Alters in diesen Siedlungen war er der Polizei wegen kleiner Delikte und Drogenbesitz bekannt. Zwischen 2004 und 2010 wurde er acht Mal verurteilt, musste aber nie ins Gefängnis. 2010 gab er seinen Job in einer industriellen Bäckerei auf und zog mit seinen Eltern und Geschwistern nach Chartres um. Die ganze Familie galt als strenggläubig, der aus Algerien eingewanderte Vater trägt eine Dschellaba, die aus Portugal stammenden Mutter und die Töchter tragen den Schleier.
Seit Jahren überwacht
Der Jüngere der Mostefai-Brüder in Chartres aber zählte zu einer kleinen Gruppe von Salafisten, die von einem Veteranen des Dschihad fasziniert waren: Der Hassprediger Abdelilah Ziyad war wegen eines Attentats auf das Hotel Atlas Asni in Marrakesch zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden. Er sagt heute, mit dem Terrorismus habe er nichts (mehr) zu tun.
Der Name Ismael Omar Mostefai stand seit fünf Jahren bei den Staatsicherheitsbehörden in der Datei mit dem Buchstaben S (für „Surveillance“, Überwachung) der mittlerweile 10.000 Personen in Frankreich, die wegen Sympathien für Terrorismus als potenziell gefährlich gelten. Besonders überwacht wurde er nicht. Er konnte vermutlich zweimal nach Syrien reisen und unbehelligt zurückkehren. Bei seiner ersten Reise war Mostefai in Begleitung von Samy Amimour, der dann an seiner Seite im Bataclan schoss und sich in die Luft sprengte. Samys zunächst heimliche Radikalisierung gibt immer noch Rätsel auf. Er wuchs in Drancy im Norden von Paris in geordneten Verhältnissen auf. Seine aus Algerien stammenden Eltern waren nicht praktizierende Muslime, seine Mutter war im Quartier wegen ihres feministischen Engagements besonders beliebt.
Der junge Samy macht seinen Mittelschulabschluss, ist laut ehemaligen Kameraden ein „lustiger Typ“. Nach der Scheidung der Eltern bemerkte Samys Vater allerdings höchst erstaunt, dass sein Sohn, der bis dahin kein Wort Arabisch konnte, auf dem Internet Gebete angehört habe. Im engen Familienkreis verwandelte sich Mutters Liebling vermutlich unter dem Einfluss der Internetpropaganda radikaler Islamisten in einen Tyrannen, der die Schwester zwingen wollte, den Schleier zu tragen.
2012 hängte er seinen Job als Busfahrer an den Nagel. Er versuchte vergeblich, nach Jemen zu reisen. Samy Amimour war nun in der S-Kartei registriert, musste sich einer polizeilichen Kontrolle unterziehen und seinen Pass abgeben, was ihn aber nicht hinderte, nach Syrien zu reisen. Dort konnte sein Vater ihn kurz besuchen – und traf einen völlig veränderten Sohn an. Der Versuch, ihn zu einer Heimkehr zu überreden, scheiterte.
Von Drogen zum Islamismus
Auch der in Belgien in einem Vorort von Brüssel lebende Bilal Hadfi, der sich beim Stade de France als jüngstes Mitglied des Terrorkommandos am 13. November mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft jagte, verbrachte Stunden vor dem Bildschirm. Unter dem Namen Billy the Hood sah man ihn auf Facebook-Fotos, wie er sich bei Partys am Rand eines Pools mit Kiffen und Alkohol amüsierte. Bei einem kurzen Gefängnisaufenthalt wegen Drogen lernte er Abdelhamid Abaaoud kennen.
Diese Begegnung hatte Folgen. Seine Mutter war zuerst sehr erleichtert, als er danach die häufigen Joints durch fünf Gebete am Tag ersetzte. In den Netzwerken posierte Hadfi jetzt ernst, mit einem Bärtchen und mit Waffen. Im Februar 2015 setzte er sich nach Syrien ab, um sich der Gruppe um Abaaoud anzuschließen.
Die in Paris geborenen Brüder Salah und Ibrahim Abdeslam, die am 13. November aus Kalaschnikows auf die Leute vor Cafés und Restaurants schossen, waren ebenfalls seit ihrer Jugend in Molenbeek Bekannte des belgischen Terroristenchefs Abaaoud.
Andere Freunde und Bekannte der Brüder sagen nachträglich, sie hätten gewusst, dass beide radikale Ideen gehabt hätten – aber niemals wären sie auf den Gedanken gekommen, dass diese Brüder, deren leichtfertiger Lebenswandel alle kannten, sich in islamistische Terroristen verwandelten.
Wo die Fäden zusammenlaufen
Der Ältere, Ibrahim, war wegen Haschisch mit dem Gesetz in Konflikt geraten, seine Bar Les Béguines war einige Monate vor den Attentaten wegen Drogenhandels geschlossen und verkauft worden. Er galt als instabil und gewalttätig: Mit 14 steckte er die Wohnung der Familie in Brand. Und 2012 griff er einen Vizebürgermeister tätlich an, weil die Familie Abdeslam aus einer Sozialwohnung ausziehen musste.
Auch der Jüngere, der weiterhin flüchtige Salah, hatte sich diverse Drogendelikte zuschulden kommen lassen. Zudem wurde aber gegen ihn wegen eines Banküberfalls mit dem bereits bekannten Dschihadisten Abaaoud ermittelt.
Alle Fäden laufen also bei Abdelhamid Abaaoud zusammen, der kurz nach dem Massaker von Paris bei einer Polizeirazzia in Saint-Denis starb. Ihm genügte zweifellos die ihm vom Vater vorgegebene Karriere als Inhaber eines Kleidergeschäfts in Molenbeek nicht. Schon bevor er die Anschläge von Paris organisiert hatte, wussten alle Terroristenfahnder, wie gefährlich dieser junge Mann war, der für den „Islamischen Staat“ (IS) in Syrien zusammen mit den aus La Réunion stammenden Brüdern Fabien und Jean-Michel Clain die rekrutierten Franzosen und Belgier befehligte.
Es gibt nur wenig Hinweise, die seine Radikalisierung erklären. Aus den unmaskierten Auftritten in der IS-Propaganda ist aber zu entnehmen, wie geltungssüchtig Abaaoud war. Es amüsierte ihn offensichtlich, die Überwachung auszutricksen und trotz eines internationalen Haftbefehls mehrmals nach Belgien zurückzukommen, um dort mit seinen Sympathisanten mehrere Anschläge zu planen.
In der Rolle des Staatsfeinds Nummer 1 scheint er eine ihm angemessene Rolle gefunden zu haben. Er zögerte nicht, seinen erst 13-jährigen Bruder Younes für die Terrormiliz als Killer zu rekrutieren und zuletzt auch noch seine Cousine Hasna Aitboulahcen in den unausweichlichen Tod zu schicken.
Welche Bedeutung hatte dabei eine religiös-ideologische Motivation? In den meisten Fällen war die Indoktrination durch Hassprediger und die Internetpropaganda eine Schnellbleiche, die laut den Religionsexperten mit einem echten Studium des Islam kaum etwas gemein hat. Dafür aber spielt die Unterordnung unter die Disziplin einer Organisation wie den IS eine zentrale Rolle. Einen Weg zurück gibt es nicht, der Tod scheint für die Mitglieder dieser apokalyptischen Sekte nicht ein Risiko, sondern das Ziel zu sein. Für Außenstehende ist es nicht nachvollziehbar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Syrien nach Assad
„Feiert mit uns!“
Ministerpräsident in Thüringen gewählt
Mario Voigt schafft es im ersten Versuch