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Motive der Pariser AttentäterWas machte sie zu Massenmördern?

Die meisten Täter der Pariser Anschläge sind identifiziert, ihre Beweggründe werden klarer. Geeint hat sie die Geltungssucht ihres Anführers.

„Paris – erschüttert, aber nicht gesunken“, das ist die Bedeutung dieses Grafittis. Foto: ap

Paris taz | Auf Twitter werden mit dem Hashtag #Enmémoire (Zum Gedenken) weiterhin einzeln oder gruppenweise die Fotos der Attentatsopfer von Paris publiziert. An sie wollen wir uns erinnern, auch wenn es wehtut. Doch an die Täter? Zuerst waren sie in vielen Medien als anonyme Monster, als unheimliche Silhouetten wie dunkle Schattenrisse mit einem Fragezeichen abgebildet worden. Später wurden die meisten Täter identifiziert.

Die Barbarei bekam Gesichter und Lebensläufe. Verständlicher wurde dieser Massenmord deswegen nicht.

Nicht in jedem Fall weiß man mit Sicherheit, welche Begegnung mit einem Hassprediger irgendwann den Ausschlag gegeben haben muss und den Beginn eines Abdriftens in die Einbahnstraße des tödlichen Fanatismus darstellte. Nichts – weder ihre Herkunft, ihre individuelle Geschichte oder ihre Betroffenheit durch kollektive soziale, kulturelle, postkoloniale oder religiöse Diskriminierungen – kann auch nur ansatzweise als Entschuldigung oder mildernder Umstand betrachtet werden. Ebenso unverantwortlich sind die „Kurzschlüsse“ bei der pauschalen Schuldzuweisung, wenn beispielsweise radikaler Islamismus und Islam leichtfertig in einen Topf geworfen werden.

Wie so oft finden sich im Lebenslauf dieser jungen fanatisierten Terroristen, die als Kanonenfutter für den „Dschihad“ dienten, bereits bekannte Schemata: Dazu gehört eine schwere Jugend in einer kinderreichen und meist nicht sehr gläubigen muslimischen Immigrantenfamilie aus Algerien oder Marokko in einem perspektivlosen Vorort der französischen „Banlieue“. Dazu gehört Schulversagen, erste Delikte und Aufenthalte auf dem Polizeiposten oder im Gefängnis.

Plötzlich und unbemerkt radikalisiert

So sieht in etwa auch bei den Antiterrorbehörden das klassische Profil der Jungen aus, die sich aus unterschiedlichsten Gründen und Umständen plötzlich und oft auch völlig unbemerkt radikalisieren. Gibt es überhaupt Gemeinsamkeiten in der Vorgeschichte der Täter, außer der Tatsache, dass alle am Ende bereit waren, sich vom mutmaßlichen Drahtzieher Abdelhamid Abaaoud für einen terroristischen Massenmord in Frankreich rekrutieren zu lassen?

Schon von den Attentätern, die Mitte der 90er Jahre im Namen des algerischen GIA mit Bomben in Verkehrsmitteln Frankreich terrorisierten, sprach man von einem neuen Lumpenproletariat. Im Dschihad fanden sie eine Form der Revolte gegen ein System, das ihnen keinen gebührenden Platz und keine Zukunft gewährte.

Dem Profil jener, die gesellschaftlich marginal, mehrfach straffällig geworden, voller Hass und manipulierbar sind, entsprach auch Omar Ismael Mostefai, einer der Mörder im Bataclan. Er kam im Vorort Courcouronnes auf die Welt. Wie andere Jungen seines Alters in diesen Siedlungen war er der Polizei wegen kleiner Delikte und Drogenbesitz bekannt. Zwischen 2004 und 2010 wurde er acht Mal verurteilt, musste aber nie ins Gefängnis. 2010 gab er seinen Job in einer industriellen Bäckerei auf und zog mit seinen Eltern und Geschwistern nach Chartres um. Die ganze Familie galt als strenggläubig, der aus Algerien eingewanderte Vater trägt eine Dschellaba, die aus Portugal stammenden Mutter und die Töchter tragen den Schleier.

Seit Jahren überwacht

Der Jüngere der Mostefai-Brüder in Chartres aber zählte zu einer kleinen Gruppe von Salafisten, die von einem Veteranen des Dschihad fasziniert waren: Der Hassprediger Abdelilah Ziyad war wegen eines Attentats auf das Hotel Atlas Asni in Marrakesch zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden. Er sagt heute, mit dem Terrorismus habe er nichts (mehr) zu tun.

Der Name Ismael Omar Mostefai stand seit fünf Jahren bei den Staatsicherheitsbehörden in der Datei mit dem Buchstaben S (für „Surveillance“, Überwachung) der mittlerweile 10.000 Personen in Frankreich, die wegen Sympathien für Terrorismus als potenziell gefährlich gelten. Besonders überwacht wurde er nicht. Er konnte vermutlich zweimal nach Syrien reisen und unbehelligt zurückkehren. Bei seiner ersten Reise war Mostefai in Begleitung von Samy Amimour, der dann an seiner Seite im Bataclan schoss und sich in die Luft sprengte. Samys zunächst heimliche Radikalisierung gibt immer noch Rätsel auf. Er wuchs in Drancy im Norden von Paris in geordneten Verhältnissen auf. Seine aus Algerien stammenden Eltern waren nicht praktizierende Muslime, seine Mutter war im Quartier wegen ihres feministischen Engagements besonders beliebt.

Er zögerte nicht, seinen 13-jährigen Bruder Younes als Killer zu rekrutieren

Der junge Samy macht seinen Mittelschulabschluss, ist laut ehemaligen Kameraden ein „lustiger Typ“. Nach der Scheidung der Eltern bemerkte Samys Vater allerdings höchst erstaunt, dass sein Sohn, der bis dahin kein Wort Arabisch konnte, auf dem Internet Gebete angehört habe. Im engen Familienkreis verwandelte sich Mutters Liebling vermutlich unter dem Einfluss der Internetpropaganda radikaler Islamisten in einen Tyrannen, der die Schwester zwingen wollte, den Schleier zu tragen.

2012 hängte er seinen Job als Busfahrer an den Nagel. Er versuchte vergeblich, nach Jemen zu reisen. Samy Amimour war nun in der S-Kartei registriert, musste sich einer polizeilichen Kontrolle unterziehen und seinen Pass abgeben, was ihn aber nicht hinderte, nach Syrien zu reisen. Dort konnte sein Vater ihn kurz besuchen – und traf einen völlig veränderten Sohn an. Der Versuch, ihn zu einer Heimkehr zu überreden, scheiterte.

Von Drogen zum Islamismus

Auch der in Belgien in einem Vorort von Brüssel lebende Bilal Hadfi, der sich beim Stade de France als jüngstes Mitglied des Terrorkommandos am 13. November mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft jagte, verbrachte Stunden vor dem Bildschirm. Unter dem Namen Billy the Hood sah man ihn auf Facebook-Fotos, wie er sich bei Partys am Rand eines Pools mit Kiffen und Alkohol amüsierte. Bei einem kurzen Gefängnisaufenthalt wegen Drogen lernte er Abdelhamid Abaaoud kennen.

Diese Begegnung hatte Folgen. Seine Mutter war zuerst sehr erleichtert, als er danach die häufigen Joints durch fünf Gebete am Tag ersetzte. In den Netzwerken posierte Hadfi jetzt ernst, mit einem Bärtchen und mit Waffen. Im Februar 2015 setzte er sich nach Syrien ab, um sich der Gruppe um Abaaoud anzuschließen.

Die in Paris geborenen Brüder Salah und Ibrahim Abdeslam, die am 13. November aus Kalaschnikows auf die Leute vor Cafés und Restaurants schossen, waren ebenfalls seit ihrer Jugend in Molenbeek Bekannte des belgischen Terroristenchefs Abaaoud.

Andere Freunde und Bekannte der Brüder sagen nachträglich, sie hätten gewusst, dass beide radikale Ideen gehabt hätten – aber niemals wären sie auf den Gedanken gekommen, dass diese Brüder, deren leichtfertiger Lebenswandel alle kannten, sich in islamistische Terroristen verwandelten.

Wo die Fäden zusammenlaufen

Der Ältere, Ibrahim, war wegen Haschisch mit dem Gesetz in Konflikt geraten, seine Bar Les Béguines war einige Monate vor den Attentaten wegen Drogenhandels geschlossen und verkauft worden. Er galt als instabil und gewalttätig: Mit 14 steckte er die Wohnung der Familie in Brand. Und 2012 griff er einen Vizebürgermeister tätlich an, weil die Familie Abdeslam aus einer Sozialwohnung ausziehen musste.

Auch der Jüngere, der weiterhin flüchtige Salah, hatte sich diverse Drogendelikte zuschulden kommen lassen. Zudem wurde aber gegen ihn wegen eines Banküberfalls mit dem bereits bekannten Dschihadisten Abaaoud ermittelt.

Alle Fäden laufen also bei Abdelhamid Abaaoud zusammen, der kurz nach dem Massaker von Paris bei einer Polizeirazzia in Saint-Denis starb. Ihm genügte zweifellos die ihm vom Vater vorgegebene Karriere als Inhaber eines Kleidergeschäfts in Molenbeek nicht. Schon bevor er die Anschläge von Paris organisiert hatte, wussten alle Terroristenfahnder, wie gefährlich dieser junge Mann war, der für den „Islamischen Staat“ (IS) in Syrien zusammen mit den aus La Réunion stammenden Brüdern Fabien und Jean-Michel Clain die rekrutierten Franzosen und Belgier befehligte.

Es gibt nur wenig Hinweise, die seine Radikalisierung erklären. Aus den unmaskierten Auftritten in der IS-Propaganda ist aber zu entnehmen, wie geltungssüchtig Abaaoud war. Es amüsierte ihn offensichtlich, die Überwachung auszutricksen und trotz eines internationalen Haftbefehls mehrmals nach Belgien zurückzukommen, um dort mit seinen Sympathisanten mehrere Anschläge zu planen.

In der Rolle des Staatsfeinds Nummer 1 scheint er eine ihm angemessene Rolle gefunden zu haben. Er zögerte nicht, seinen erst 13-jährigen Bruder Younes für die Terrormiliz als Killer zu rekrutieren und zuletzt auch noch seine Cousine Hasna Aitboulahcen in den unausweichlichen Tod zu schicken.

Welche Bedeutung hatte dabei eine religiös-ideologische Motivation? In den meisten Fällen war die Indoktrination durch Hassprediger und die Internetpropaganda eine Schnellbleiche, die laut den Religionsexperten mit einem echten Studium des Islam kaum etwas gemein hat. Dafür aber spielt die Unterordnung unter die Disziplin einer Organisation wie den IS eine zentrale Rolle. Einen Weg zurück gibt es nicht, der Tod scheint für die Mitglieder dieser apokalyptischen Sekte nicht ein Risiko, sondern das Ziel zu sein. Für Außenstehende ist es nicht nachvollziehbar.

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4 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • die ursachen von gewalt sind der forschung mittlerweile hinlänglich bekannt. eigenartigerweise tut die öffentlichkeit - eingeschlossen politik, gerichtswesen, medien u.s.w - TROTZDEM immernoch so, als sei gewalt ein rätselhaftes phänomen. zum aktuellen stand der neurowissenschaften ist 2011 ein allgemeinverständliches buch erschienen, dessen offizielle kurzzusammenfassung hier wiedergegeben wird, - es lässt sich kaum besser sagen:" Brutale Gewalt in aller Öffentlichkeit, Amokläufe an Schulen, tödliche ethnische Konflikte und Kriege um knapper werdende Ressourcen: Das Phänomen der Aggression wird immer bedrängender und macht uns Angst. Joachim Bauer entlarvt den Mythos des Aggressionstriebes und liefert mit Schmerzgrenze eine Neukonzeption des Gewaltphänomens, die auf neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen beruht. Evolutionärer Zweck der Aggression ist, uns gegen die Zufügung von Schmerzen wehren zu können. Unser Gehirn bewertet Ausgrenzung und Demütigungen wie körperlichen Schmerz und reagiert deshalb auch darauf mit Aggression. Dies bedeutet: Aggression steht im Dienste der Verteidigung sozialer Bindungen. Auch Armut bedeutet Ausgrenzung und Demütigung, zumal wenn sie sich im Angesicht von Reichtum ausbreitet. Wenn wir das Problem der ungerechten Ressourcenverteilung nicht in den Griff bekommen, wird die Gewalt weltweit zunehmen und die menschliche Existenz bedrohen.

    Nur Fairness, Kooperation und ein neues Verständnis der Mechanismen der Gewalt können einen Weg aus der Aggressionsspirale weisen."

     

    Joachim Bauer (2011):

    Schmerzgrenze: Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt

     

    ...PFLICHTLEKTÜRE! :-)

    • @Mr. Spock:

      Ja das macht Sinn. Es gibt auch ein Buch "Was Terroristen wollen.: Die Ursachen der Gewalt und wie wir sie bekämpfen können" von Louise Richardson. Sie hat einfach mal Terroristen gefragt was sie wollen. Und bekam Antworten: Sie wollen gehört werden. Das passt in das Muster, das Joachim Bauer anspricht.

       

      Ich fürchte nur, dass diese Muster sehr wohl bekannt sind und benutzt werden, schliesslich gib es viele Gewinner beim Terrorismus: Ölkonzerne, Sicherheistbehörden, etc...

      • @LastHope:

        ...das ist zu befürchten: schon der gute alte machiavelli empfiehlt dem fürsten den äußeren feind - um von inneren problemen ablenken zu können. wer regieren will, braucht äußere feinde zur legitimation. nun ist der internationale terror ein sehr willkommener feind: von china bis russland, von frankreich bis in die türkei, überall profitieren die regierungen vom terror und terrorisieren die bevölkerung mit demonstrationsverbot bis internetüberwachung, ausnahmezustand und vorratsdatenspeicherung. interessant ist, dass die hintermänner hinter den hintermännern auch beim 'islamischen staat' wie zuvor schon bei den taliban - geheimdienste sind....

        und das ist der forschung auch bekannt. der ganz offiziellen politikwissenschaft, nein, keine 'verschwörungstheorie'...

  • Geltungssucht ließe sich auch als gelungene Integration deuten. Und obwohl sie in einer Gesellschaft gar nicht erst erzeugt werden sollte, sind die Möglichkeiten, sie in anerkannter Form auszuleben, obendrein ungleich verteilt.