piwik no script img

Mordender Pfleger aus NiedersachsenWeitere 84 Menschen getötet

Jahrelang konnte Krankenpfleger Niels H. nahezu ungestört mindestens 90 Menschen töten. Kollegen und Vorgesetzte haben weggeschaut.

Wie viele Menschen Niels H. letztlich wirklich getötet hat, wird wohl nie geklärt werden können Foto: reuters

Oldenburg epd | Die Mordserie durch den früheren Krankenpfleger Niels H. in Niedersachsen hat einen weitaus größeren Umfang als bisher bekannt. Nach neuen Ermittlungsergebnissen soll er weitere 84 Menschen getötet haben. Damit werden ihm bislang insgesamt 90 Morde vorgeworfen, wie der Leiter der Sonderkommission „Kardio“, Arne Schmidt, nach fast dreijährigen Ermittlungen am Montag in Oldenburg mitteilte. Der heute 40-jährige Niels H. wurde bereits für sechs Taten verurteilt und verbüßt eine lebenslange Haftstrafe.

Der Krankenpfleger hatte zwischen den Jahren 2000 und 2005 Patienten zunächst in einer Oldenburger, dann in einer Delmenhorster Klinik Medikamente gespritzt, die ein Herzversagen oder einen Kreislaufkollaps auslösten. Anschließend reanimierte er seine Opfer, um als Held zu erscheinen. Schmidt zufolge hat es in beiden Kliniken frühzeitig zahlreiche Hinweise gegeben, die eine polizeiliche Ermittlung gerechtfertigt hätten.

Allein aufgrund der Aktenlage wäre ein schwerer Verdacht auf Niels H. gefallen, der ihn vermutlich auch überführt hätte. Gegen sechs verantwortliche Mitarbeitende im damals städtischen Krankenhaus Delmenhorst sei darum Anklage erhoben worden, von denen sich drei demnächst vor Gericht verantworten müssen. Noch nicht abgeschlossen seien die Ermittlungen gegen Mitarbeiter des Klinikums Oldenburg. Jedoch kooperiere die heutige Klinikleitung eng mit den Behörden zusammen und habe bereits Beweise geliefert.

Die Sonderkommission beendete ihre Arbeit, laut Schmidt wird aber weiter im Alltagsbetrieb der Polizei ermittelt. Auch nach dem Ende der Soko „Kardio“ arbeiten einige Ermittler der Soko weiter an dem Fall. In 41 Fällen stehe das toxikologische Ergebnis noch aus. Schmidt zufolge ist nur „die Spitze des Eisberges“ bekannt. So könnten etwa mehr als 130 Verdachtsfälle nicht weiter verfolgt werden, weil die mutmaßlichen Opfer mit einer Feuerbestattung beigesetzt wurden. Ob und wie viele weitere Opfer von Niels H. getötet wurden, bleibe ungewiss.

134 Leichen exhumiert

Der Oldenburger Polizeipräsident Johann Kühme dankte seinen Kollegen, aber auch den Pastoren für die schwere Begleitung der Angehörigen und Friedhofsmitarbeiter. Auf 67 Friedhöfen seien 134 Leichen exhumiert worden, um Beweise zu sichern: „Die Ermittlungen sprengen jede Vorstellungskraft und haben mich entsetzt.“ Kühme schloss sich der Kritik an die damaligen Klinikleitungen an und unterstrich, „viele Todesfälle hätten verhindert werden können“.

Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, warf sowohl den Kollegen von Niels H. als auch der Polizei, den Arbeitgebern und der Justiz Versagen in der wohl größten Mordserie in Nachkriegsdeutschland vor. Sie alle hätten zu lange weggeschaut. Bis heute fehlten in vielen der bundesweit 2.000 Krankenhäuser verschärfte Kontrollmechanismen, wie etwa ein anonymes Meldesystem.

Brysch forderte ein umfassendes Alarmsystem, das Auffälligkeiten sofort melde und unverzügliches Einschreiten ermögliche. „Hierzu müssen amtsärztliche Leichenschauen, eine umfassende Sterbestatistik und eine exakte Kontrolle der Medikamentenausgabe in allen Krankenhäusern und Pflegeheimen Pflicht werden.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • Laut einer Studie sterben jährlich bis zu 21.000 Menschen in Heimen und Krankenhäusern durch illegale Maßnahmen. Das geht aus einer Studie von Wissenschaftlern der Universität Herdecke hervor.

    http://www.mdr.de/wissen/mensch-alltag/tatort-krankenhaus-100.html

     

    AOK-Krankenhausreport vom 21.01.2014 spricht von rund 19 000 Tote jährlich durch Behandlungsfehler.

  • Mord und anschliessende heldenhafte Reanimationsversuche sind eine Sache. Die andere ist das moralische Dilemma, in dem Pfleger stehen, wenn Patienten um den Tod bitten, aber aufgrund medizinischem Eid zu einem qualvollen Leben gezwungen werden. Da gibt es sicher immer wieder Fälle, bei denen alle erleichtert sind und "wegschauen". Klingt so, als ob das hier nicht der Fall war, aber die Informationsmenge ist auch sehr dürftig.

    Eine moralische Verurteilung ist m.E. deshalb nicht einfach zu fällen. Die juristische Seite ist jedoch eindeutig.

    • @Mitch Miller:

      Es gibt teuere Medikamente, die helfen, damit das Leben nicht qualvoll ist. Diese Medikamente sind sehr teuer und werden ungern oder nicht immer von Krankenkassen übernommen. Falls ein Kranker Mensch um den Tod bittet - wie Sie das behaupten - dann braucht dieser Mensch eine erneute Diagnostik (am besten von einem anderen Arzt, der nicht in einer Kooperation mit dem behandelnden Arzt steht und die aktuelle Diagnose nicht kennt), um u.a. zu prüfen, ob nicht eine psychische Krankheit übersehen wurde.

       

      Und ganz kritisch auf den Punkt gebracht:

       

      Wenn ein Patient um den Tod bittet, dann hat sein Arzt seinen Job überhaupt nicht gut gemacht!

      • @Stefan Mustermann:

        Es gibt genug Krankheiten, bei denen man grausam verreckt, ohne das ein Arzt einem helfen kann.

  • Angesichts der Sparwut in den deutschen Krankenhäusern, die mittlerweile zur Hälfte privatisiert sind ist der nächste Gau vorprogrammiert. Es gibt bald eh kein Pflegepersonal mehr. Eine entscheidende Kleinigkeit wurde nicht erwähnt : Bei der aktuellen Mordserie hat sich die zuständige Staatsanwaltschaft lange geweigert zu ermitteln. Sie tat dies erst nach umfangreichen Protesten... Die deutsche Justiz ist spätestens jetzt auch für geduldige Gemüter nicht mehr ernstzunehmen.

  • Entsetzlich, ja. Aber solche "statistischen Ausreißer" wie mordende Krankenpfleger mit Kontrollen für alle zu beantworten, ist völlig hirnrissig und praktisch nicht umsetzbar. Wenn ein Pfleger töten will, kann man nicht jeden engmaschig überwachen. Sensibilisierung schon in der Ausbildung und (ohnehin notwendige bzw. eigentlich bereits vorhandene) Qualitätskontrolle per statistischer Auswertung von Sterbefällen und Medikamentenverbrauch sollte genug sein, um so etwas zu verhindern. Hätte auch in diesem Fall frühzeitig geholfen, wenn da nicht etliche Leute sehr lange beide Augen zugedrückt hätten.

     

    Der ewige Schrei nach totaler Kontrolle ist nur ein Indiz für die panische Hilflosigkeit, die inzwischen deutsche Generaltugend geworden ist, weil Inkompetenz und "besser morgen eine Katastrophe als heute ein Skandal" offenbar in zu vielen Posten zur Jobbeschreibung gehören.

    • @Mustardman:

      Professor Dr. med. H. Csef schreibt:

       

      „Krankentötungen durch Ärzte und Pflegepersonal hat es schon immer gegeben. Im 21. Jahrhundert waren in deutschen Kliniken einige Patientenmordserien zu beklagen, die eine besonders hohe Zahl von unschuldigen Opfern mit sich brachten. Experten vermuten eine Zunahme dieser Tötungsdelikte.“

      http://www.izpp.de/fileadmin/user_upload/Ausgabe_2_2016/005_Csef2_2016.pdf

       

      Es ist also kein „statistischer Ausreißer“. Politiker müssen noch viel Arbeit leisten, damit Kranke und Pflegebedürftige Menschen in Krankenhäusern und Pflegeheimen sicher sind!