Morde in Kolumbien: Die tödliche Kraft des Virus
Die Anzahl von Anschlägen steigt in Kolumbien in Corona-Zeiten noch stärker an. Die Opfer sind schutzlos und in der Quarantäne ein leichtes Ziel.
Pérez hat einen Großteil der Kindheit seiner Töchter verpasst, seine Ehe ist zerbrochen. Fünf Jahre war er im Exil in Venezuela. Und Ende Februar hat er seine Region verlassen, weil die Situation dort immer schlimmer wird.
Seit Unterzeichnung des Friedensabkommens im November 2016 bis Ende 2019 wurden in Kolumbien 396 „soziale Anführer*innen“ ermordet – Menschenrechtsverteidiger*innen, Umweltschützer*innen und Aktivisten, die sich für ihre Gemeinschaft engagieren.
Allein in diesem Jahr sind bislang wohl 50 Ermordete zu beklagen, sagt Sirley Muñoz von der Nichtregierungsorganisation Somos Defensores. Seit 2009 habe es noch nie so viele Morde an Aktivist*innen in einem so kurzen Zeitraum gegeben. Im März dieses Jahres waren es zwölf.
Guillermo Pérez, Aktivist
Seit Wochen dürfen Kolumbianer*innen das Haus nur zum Einkaufen verlassen oder um mit dem Hund Gassi zu gehen. Anfang der Woche hat Präsident Iván Duque verkündet, dass die nationale Quarantäne bis zum 11. Mai verlängert wird. Viele Städte regeln zusätzlich über Passnummer oder Geschlecht, wer hinaus darf. Senior*innen über 70, Menschen mit Vorerkrankungen und Kinder dürfen überhaupt nicht aus dem Haus. Kindergärten, Schulen und Universitäten bleiben bis mindestens Ende Mai geschlossen.
Wie in vielen lateinamerikanischen Ländern leben in Kolumbien viele von der Hand in den Mund: von dem, was sie am Tag auf der Straße verkaufen. Immer wieder protestierten zuletzt die Ärmsten und forderten Hilfe von der Regierung. Um nicht noch tiefer in die Wirtschaftskrise zu rutschen, die durch die Pandemie und den sinkenden Ölpreis verstärkt wird, will die Regierung jetzt Fabriken und Bauunternehmen unter strengen Schutzbestimmungen öffnen. Bisher waren nur Landwirtschaft und Viehzucht erlaubt.
Die Coronapandemie hat die Situation verschärft. In ihrem Schatten wagen sich die bewaffneten Gruppen hervor. So weit, dass sie sogar den international bekannten Menschenrechtsaktivisten Marco Rivadeneira ermordeten. Drei bewaffnete Männer in Zivil holten ihn im März aus einer Versammlung, entführten und erschossen ihn.
„Das ist eine deutliche Botschaft an die weniger bekannten Aktivisten in der Region“, sagt Sirley Muñoz. Die Region Putumayo, aus der Rivadeneira stammt, ist dieses Jahr unter die drei mit den meisten Morden aufgerückt. Sie liegt mit der Nähe zu Ecuador und dem Amazonas strategisch gut für den Drogenhandel. Wo die Gewalt früher klaren Gruppen zugeordnet werden konnte, ist die Lage heute diffus.
Ohne staatliche Unterstützung geraten einfache Bauern und Bäuerinnen, die sich für die Substitution von illegalen Pflanzungen einsetzen, in Lebensgefahr, weil die Drogenbanden sie bedrohen. Derzeit haben sie faktisch keinerlei Sicherheitsgarantie vom Staat, sagt Muñoz. „Sie werden alleine gelassen.“
Kolumbiens Regierungspartei Centro Democrático hat zuletzt gefordert, die Quarantäne der Bauern zu nutzen, um die Besprühung der illegalen Anpflanzungen mit Gift aus der Luft wieder aufzunehmen. Es gibt Videos von Soldaten, die Kokapflanzen ausreißen – und somit vollendete Tatsachen schaffen.
Kein Alarm
Die Quarantäne nimmt den Bürgerrechtler*innen auch die Bewegungsfreiheit, die ihnen sonst Schutz gibt: Jetzt müssen sie mit ihrer Familie zu Hause in ihren Dörfern bleiben und sind daher ein leichtes Ziel. Gleichzeitig ist niemand mehr da, um nach außen Alarm zu schlagen. So nutzen Ölfirmen bei Barrancabermeja das aus, um gegen Umweltauflagen zu verstoßen und Brunnen der Gemeinschaften zu verschmutzen, berichtet Muñoz.
Konzerne und bewaffnete Gruppen arbeiten in Kolumbien oft Hand in Hand. Laut einer aktuellen Studie des Business & Human Rights Resource Centre geschehen 76,5 Prozent der Attacken in Gegenden mit den größten Wirtschaftsprojekten. Zu 90 Prozent haben sie mit vier Sektoren zu tun: Bergbau, fossile Brennstoffe, Landwirtschaft und Rinderzucht sowie Wasserkraft- oder Staudammprojekte.
Der Aktivist Guillermo Pérez, der sich gegen Bergbauriesen und Großgrundbesitzer engagiert, berichtet von Drohungen. Die seien anonym oder kämen von bekannten Verbrecherbanden. „Es muss also eine Komplizenschaft geben.“ Er lebe mit ständiger Unruhe und Misstrauen. „Es macht Angst, dass sie mich jeden Moment ermorden können“, sagt er. Seine Töchter sieht er kaum, aus Furcht, sie in Gefahr zu bringen.
Die Solidarität der Menschen gebe ihm Kraft, sagt er. Vom Staat bekomme er kaum Hilfe. Zwar hat Pérez einen Personenschützer von der nationalen Schutzeinheit UNP. Doch der sei eher ein Problem als eine Hilfe: Der Bodyguard fällt auf und hat kein Auto. So bleibt er meistens zu Hause.
Ein typisches Problem, sagt Sirley Muñoz: Viele der Bedrohten müssten sogar das Essen ihrer Beschützer bezahlen, obwohl sie kaum Geld für ihr eigenes hätten. Obwohl die Regierung betont, dass die Epidemie nichts ändere, sei der Personenschutz von manchen Aktivist*innen abgezogen worden.
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