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Monografie „Viewshed“ über Larissa FasslerDie soziale Maschine erfassen

Die Künstlerin Larissa Fassler entwirft ausufernde Modelle von urbanen Konfliktzonen. Die Monografie „Viewshed“ gibt einen Überblick.

Larissa Fassler, „Gare du Nord III“, 2014–2015 (Ausschnitt) Foto: Distanz-Verlag, Berlin 2022

Der Gare du Nord verbindet Paris mit Europa und ist unterirdisch ein Tor für die Metro in die nördlichen Pariser Vorstädte. Die Künstlerin Larissa Fassler hat dessen stetig wuchernde Tentakel aus Schleusen und Rolltreppen, Bahnsteigen und Fußgängerbrücken maßstabsgerecht nachgebaut.

Sie drückte sich dafür drei Monate nahezu jeden Tag und oft mehrere Stunden lang in den Gängen und Hallen des Bahnhofs herum und entwickelte aus Hunderten von handgezeichneten Skizzen und Notaten zudem fünf große Bilder. Dabei musste sie immer wieder den Standort wechseln, das Wachpersonal verscheucht alle, die mehr wollen, als nur durchzueilen.

Der Gare du Nord, Transitzone für täglich 700.000 Menschen und Europas größter Bahnhof, ist „eine soziale Maschine, die sortiert, separiert, kontrolliert und befiehlt“, ­schreiben Chris Blache und Pascale Lapalud in der jüngst erschienenen Monografie zu Fassler.

Jenes von Videokameras und Wachschützern ausgeleuchtete Panoptikum spiegelt sich auch in der labyrinthischen Untergrundstadt Les Halles, dem zweiten zentralen Ankunftsort der Pariser Vorstadtzüge. Ihm widmete Fassler weitere Modellarbeiten aus bedrucktem und genutztem Pappkarton.

Umkämpfte Orte

Die umfangreiche Monografie „Viewshed“ versammelt Arbeiten Fasslers der letzten fünfzehn Jahre. Immer zeichnet die Englisch sprechende Kanadierin, die seit 1999 in Berlin lebt, umkämpfte und öffentliche Orte auf: in Paris, New York, Berlin, auch den Taksim-Platz in Istanbul. Mithilfe von Werkzeugen aus der visuellen Anthropologie und Stadtplanung entwickelt die Künstlerin über Monate hinweg großformatige Mixed-Media-Gemälde, ausgreifende Modell-Skulpturen und detailversessene Computergrafiken. Darauf kondensiert sie die räumlichen und zeitlichen Ebenen, bleibt zudem lückenhaft oder übermalt Stellen, Vorheriges wird in Spuren sichtbar.

Das Buch

Diana Sherlock (Hg.): Larissa Fassler. „Viewshed“. Distanz ­Verlag, Berlin 2022, 304 Seiten, engl./dt./fr. 44 Euro

Ihre großformatig gedruckten Arbeiten im Buch sind ein „reichhaltiges Palimpsest, das dicht geschichtete Zonen städtischer Aktivität aus Strukturpaste, Farbgrundierungen, nassem und trockenem Grafit, sorgfältig dargestellten Gebäudegrundrissen und nachgezeichneten Grenzen, fast unsichtbaren Bleistiftstrichen und triefender Farbe entstehen lässt“, schreibt Karen E. Till.

Für ihre Langzeitstudien schaut und hört Fassler den Orten zu. Stimmen am Kreuzberger Verkehrsknotenpunkt Kottbusser Tor notiert sie als Palaver oder chorisches Sprechen. Protestbanner, Werbelogos, Zeitungsüberschriften oder das Marketing, mit denen Projektentwickler wie Pandion einen blankneuen Gewerbebau mit „The Shelf“ umwerben, brennen neue Namen in die Stadt. Preisschilder wie auf Immo-Seiten oder bei Airbnb markieren den Ausverkauf.

Ihre aus dem Architekturentwurf kommenden axonometrischen Zeichnungen nehmen Überwachungstechniken wie die Drohnenperspektive oder eine maßstabsgerechte Darstellung auf. Gemeinsam mit den aufgezeichneten Geräuschen, Gerüchen, Temperaturen sowie Farben demonstriert Fassler einen widersprüchlichen Gebrauch der Räume.

Als kritische Dokumentaristin verfasste sie ein Zeugnis von Kreuzberg 36 zwischen Kotti und Moritzplatz: Kämpfe gegen Stadtautobahn oder Flächensanierung, gegen Abschiebung oder Deutsche Wohnen & Co. lassen sich durch eingelagerte alte Stadtplanungen oder aktivistische Logos noch ablesen, nachdem die Kettenläden und Offshore-Fonds schon vieles begraben haben.

Ihre Zeichnung vom „Civic. Centre“ im US-amerikanischen Manchester ist nur dem Namen nach den Be­woh­ne­r:in­nen der Stadt zugewandt. In diesen „Verwundungszuständen“, wie Wendy Brown die urbanen Situationen in Fasslers Arbeiten nennt, hält der öffentliche Raum die Gesellschaft nicht zusammen.

„Viewshed“ (übersetzbar mit „Ansichtsfenster“ oder „Sichtbereich“) macht sich nicht einfach gemein mit den umkämpften Orten. Dank seiner vielen Perspektiven von weiblichen Autorinnen und Texten auf Französisch, Englisch und Deutsch führt das Buch die eigene Geschichte dieser städtischen Räume neu vor. Von denen, die von außen hinzukamen.

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