Momente eines historischen Halbfinals: Einsam und geschockt
Im Halbfinale spielten die Brasilianer wie von Gott verlassen. Und das schwarz-rot-goldene Publikum war vor allem eines: stumm.
Nicht Neymar hat gefehlt, nicht Thiago Silva hat gefehlt, Gott hat gefehlt. Weder hatte er seine Hand im Spiel, noch hat er seinen Fuß in das Spiel der Auserwählten gesetzt. Ausgerechnet ihnen ist er nicht erschienen. Ihnen, die Gott vor, während und nach dem Spiel durch Bekreuzigen und erhobene, vorher geküsste Zeigefinger, mit Blicken zum Himmel und Händen vor den Augen aufs Heftigste beschwören. Er verweigerte ihnen seine Hilfe, wo er doch einen Stammplatz auf ihren T-Shirts, ihren Unter- und Oberarmen und ihrer Ersatzbank hat.
1:7. Das ist ein Halbfinalergebnis, an das jene Verwegenen, die das vorher tippten, selbst nicht glaubten. Und niemand, nicht das brasilianische Team, nicht die Zuschauer im Stadion und nicht die vor den Fernsehern, konnte glauben, was da mit den Brasilianern auf dem Platz passierte. Sie spielten nicht, als seien sie von Gott inspiriert und beseelt. Sie spielten wie von Gott verlassen. Die Schmerzen, die die Spieler und die Fans beim Anblick dieses 1:7 haben, müssen jene sein, die Jesus an seinem gnädigen Vater zweifeln ließen: „Mein Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34; Mt 27,46).
In diesem 1:7 lässt Gott sich nur noch lutheranisch als Deus absconditus denken, als verborgener Gott, dessen Pläne unerforschlich und mit rationalen Kategorien nicht zu fassen sind. Mit der auch schon einige hundert Jahre in der Welt seienden, Gott verteidigenden Idee des Deus absconditus werden sich die Brasilianer kaum trösten können. Auch die Frage der Theodizee, wie das Böse in die Welt kommt, wenn Gott doch voller Liebe ist, bleibt für sie ungeklärt.
Dass Gott eine Schwäche für Fußball hat, daran können die Brasilianer nur noch durch den historisch letzten theologischen Kniff in der Frage nach Gottes Gerechtigkeit festhalten: Gott ist ein Werdender. Danach hat er sich gänzlich aus dieser Welt entfernt, weil seine Allmacht den Menschen keinen Platz gelassen hat, sich zu entfalten. Gott teilt also seine Macht mit den Menschen. Und die machen dann mitunter Unglaubliches damit. Und dieses Unglaubliche hat seit Mittwochabend ein neues Synonym: 7:1. (DORIS AKRAP)
***
Keine Fachsimpelei in der U-Bahn, im Bus am Morgen danach, in der Bäckerei. Gelegentlich ein: Hast du auch gesehen? Keine gesprochene Antwort, nur ein Nicken. Nicht dieses Einandernacherzählen, die Freistöße, das Werden und Gelingen der Tore. Mehr ein gemeinsames Schweigen mit offenen Mündern.
Vor vier Jahren, in Südafrika, schwärmte man noch nach dem 4:0 gegen Argentinien, die dicke Hose Diego Maradonas auf ewig zerknittert. Es war, als habe das deutsche Publikum an Sekt geschlürft und, Selters gewohnt, ein „Lecker, lecker“ ausgebracht.
Dieses Halbfinale war ein Schock, der das Publikum stumm gemacht hat. Und sogar echtes Mitgefühl erregt hat – mit den Brasilianern. Wer wollte schon über eben Traumatisierte gewonnen haben? Die alte psychoanalytische Wahrheit, der Anblick schierer Schönheit mache nur staunen, nicht sprechen, kommt mal wieder zu sich.
Es ist, als habe das schwarz-rot-goldene Publikum, und nicht nur dieses, in den Deutschen viel mehr als fließbandkalte Dienst-nach-Vorschrift-Mentalität entdeckt. Sondern, nun ja, das Graziöse, das in jeder Kür, nicht in der Pflicht aufscheint. Worte, einige Worte. Wortlos alle, die diese Partie genießen wollten. Und konnten. (JAN FEDDERSEN)
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