Mögliche Verfassungsänderung in Australien: Stimme für australische Indigene
Die Beziehung zwischen Nicht-Aboriginal und ersten Bewohnern könnte neu definiert werden. Letztere würden eine Stimme im Parlament erhalten.
Zum 235. Jahrestag lag die nationale Aufmerksamkeit auf der neuen Regierung unter dem Labor-Premier Anthony Albanese und der Frage, inwieweit sie dafür Sorge tragen wird, dass die ersten Bewohner Australiens in der Verfassung anerkannt werden. Es kommt in Australien selten vor, dass Politiker und Politikerinnen wie Rockstars gefeiert werden. Albanese ist eine Ausnahme. Bei einem Musikfestival wurden die Ausführungen des Sozialdemokraten jüngst von tosendem Applaus unterbrochen.
In den kommenden 12 Monaten wird Australien darüber abstimmen, ob indigene Menschen im Parlament eine beratende Stimme haben sollen, verkündete der Ministerpräsident neulich. Damit löst der 59-Jährige ein Versprechen ein, das er im vergangenen Mai vor seinem Sieg über die konservative Regierung von Premierminister Scott Morrison gegeben hatte. Es ist allerdings fraglich, ob die ganze Bevölkerung die Begeisterung der Musikliebhaber teilen wird. Denn gegen die Vorlage formiert sich eine ernstzunehmende Opposition.
Laut Regierung soll in Zukunft ein Gremium eminenter Indigener das australische Parlament in Fragen beraten, welche für die ersten Bewohner des Kontinents von besonderer Wichtigkeit sind, etwa schlechte Gesundheitsversorgung, dramatische Ausbildungsdefizite, Rassismus. Die rund 900.000 Aboriginal und Bewohner der Torres-Meeres-straße zwischen Australien und Papua-Neuguinea gehören unter den 25 Millionen Australiern zu den am stärksten benachteiligten Gruppen.
„Zum Aussterben verurteilte Rasse“
Albanese und die für Aboriginal zuständige Ministerin Linda Burney haben zwar klar gemacht, dass die „Stimme“ ausschließlich eine beratende Funktion haben würde. Die Formulierung von Gesetzen und Verordnungen bliebe weiterhin bei Parlament und Regierung. Trotzdem warnen konservative Gegner wie der frühere Premierminister Tony Abbott vor der Schaffung eines „parallelen Parlaments“. Da für die spezifisch auf die Bedürfnisse Indigener ausgerichtete Körperschaft auch eine Änderung der Verfassung notwendig sei, würden die Urbewohner im Grundgesetz erwähnt – zum ersten Mal.
Die australische Verfassung war 1901 in Kraft getreten, 113 Jahre nach Beginn der weißen Besiedlung oder „Invasion“ des Kontinents, wie die Aktivisten es nennen. Rassistische Ideologie gegenüber den Ureinwohnern dominierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Denken der Gründungsväter des modernen Australiens.
Aboriginal wurden als eine „zum Aussterben verurteilte Rasse“ gesehen, verfolgt, ausgegrenzt, versklavt und diskriminiert. Erst seit 1967 sind Indigene überhaupt als Bürger anerkannt, auf einem Kontinent, den sie seit mindestens 65.000 Jahren bewohnen. Bis in die siebziger Jahre wurden Mischlingskinder ihren Eltern entrissen, um sie in der weißen Gesellschaft zu „assimilieren“. Und erst 1992 beendete ein Gericht den Mythos, Australien sei vor der Ankunft der Weißen „Terra Nullius“ gewesen – unbewohntes Niemandsland.
Dabei hatte es vor Beginn der weißen Besiedelung 1788 auf dem Kontinent über 500 indigene Völker oder Stämme gegeben, mit eigenen Kulturen, Riten und Sprachen. Die Kolonialisierung führte zum Aussterben unzähliger solcher „Erster Nationen“. Mit ihnen verlor das Land nicht nur Menschen und deren Geschichte. Heute gibt es nur noch knapp 170 indigene Sprachen und Dialekte.
Gesetze werden besser und in der Ausführung erfolgreicher
Für Megan Davis, Verfassungsrechtsprofessorin in Sydney und selbst Aboriginal, ist eine beratende Stimme für Indigene im Parlament längst überfällig. Die Erfahrung zeige, dass die Einbeziehung von Minderheiten am politischen Prozess generell positiv sei. „Wenn indigene Völker an der Formulierung und der Schaffung von Gesetzen beteiligt sind, werden diese Gesetze nicht nur besser, sondern auch erfolgreicher in ihrer Ausführung“, so die Akademikerin.
Australien steht in der Anerkennung, geschweige denn in der Frage der Versöhnung mit seinen Urvölkern, ganz unten auf der Liste vergleichbarer Länder. Der Nachbar Neuseeland etwa hatte mit den Maori-Ureinwohnern schon 1840 einen Vertrag ausgehandelt, der ihnen gewisse Rechte garantiert. Zudem stehen ihnen vier spezielle Parlamentssitze zu.
Uluru-Erklärung im Jahr 2018 als Vorlage
Hoffnung auf Änderung gab es in Australien vor fünf Jahren. Davis, selbst eine Aboriginal-Älteste, verlas damals das sogenannte „Uluru-Statement aus dem Herzen“. Die Erklärung war ein Apell der indigenen Stämme an die gesamte Nation, die ersten Bewohner Australiens nach über einem Jahrhundert des Wartens im Grundgesetz anzuerkennen. „Wir suchen Anerkennung in der Verfassung, um unsere Menschen zu ermächtigen und ihren rechtmäßigen Platz in unserem eigenen Land zu erhalten“, so Davis im Schatten des Uluru, des früher als Ayers Rock bekannten Sandsteinmonolithen im roten Zentrum des Kontinents.
Mit dem Dokument hatten die Ur-Australier Geschichte geschrieben. Denn nach zwei Jahre dauernden, zähen Verhandlungen hatten sich Vertreter der meisten überlebenden Urvölker des Kontinents auf eine spezifische Botschaft einigen können – trotz der zum Teil signifikanten ethnischen, religiösen und sozialen Unterschiede. Diese Differenzen werden oft als Gründe genannt, weshalb die Ureinwohner Australiens bis heute keine gemeinsame Stimme haben. Im Gegensatz zu den Maori in Neuseeland haben die Aboriginal somit auch kaum politisches Gewicht.
Doch die Freude über den Konsens dauerte nicht lange. Zur Enttäuschung aller Beteiligten wurde der Vorstoss von der damaligen konservativen Regierung unter Premierminister Malcolm Turnbull abgelehnt. Man wolle keine „Zweiklassengesellschaft“ schaffen, so das Argument der Gegner. Kommentatoren in den mehrheitlich konservativen Medien warnten mit oftmals rassistischem Unterton vor der Erwähnung Indigener in der Verfassung.
Die Uluru-Erklärung ist nun Vorlage für die geplante Volksabstimmung. Laut Aboriginal-Ministerin Linda Burney solle das Volk einzig darüber abstimmen, ob es eine „Stimme“ will. Die Einzelheiten würden vom Parlament ausgearbeitet. Wann in diesem Jahr die Abstimmung abgehalten wird, steht noch nicht fest. Doch die Gegner haben bereits Position bezogen.
So gab die vor allem in der Landwirtschaft verwurzelte Nationalpartei bekannt, sie werden die Vorlage bekämpfen. Die konservative Liberale Partei will mit einem Entscheid noch warten, bis der Abstimmungstext bekannt ist. Beobachter glauben, Oppositionschef Peter Dutton plane eine konzertierte, rassistisch untermalte Gegenkampagne. Der frühere Immigrations- und Innenminister hat in der Vergangenheit mit seiner Rhetorik immer wieder an die rassistische Ader der Australier appelliert.
Eine Gefahr, dass Politiker die kommende Debatte nutzen, um Zweifel über die Macht und Funktion einer indigenen „Stimme“ zu streuen, besteht auf jeden Fall. Die unabhängige Parlamentarierin Zali Steggall will deshalb die Verabschiedung eines Gesetzes vorverschieben, mit dem das Verbreiten von „Lügen und Fehlinformation in politischer Werbung“ illegal gemacht werden soll. Einflussreiche Medienkommentatoren und Politiker polemisieren bereits heftig und mit paternalistischem Unterton gegen vermeintliche „Sonderrechte für Indigene“. Statt Symbolik wie die Anerkennung in der Verfassung wollten Aboriginal praktische Hilfe. Dabei scheint genau dieser Zugang zur Lösung der Probleme nicht zu funktionieren. 235 Jahre nach der europäischen Besiedelung des Kontinents sterben Aboriginal im Durchschnitt noch immer zehn Jahre früher als weiße Australierinnen und Australier. (mit ap)
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