Aus Pressemitteilungen werden Reels: Moderne Medienarbeit hat ihre Tücken
Meist vermisst man ja Dinge erst, wenn sie plötzlich fehlen. Die Pressemitteilungen der Hamburger Linksfraktion zum Beispiel.
M eist vermisst man Dinge erst, wenn sie plötzlich fehlen. Die Pressemitteilungen der Hamburger Linksfraktion zum Beispiel. Stetig liefert deren Pressestelle Meldungen mit Inhalt, die die Vorgänge in der Stadt beleuchten. Sie bestehen aus einer Überschrift, einem kurzen Text mit dem Sachverhalt und dem Zitat eines Abgeordneten. Meist sind parlamentarische Anfragen an die Stadt und deren Antworten angefügt, das sind gute Quellen für Journalisten.
Tja und nun, als kurz vor den Ferien die Schulbehörde die Essenspreise auf fünf Euro anhob, fand sich dazu keine Pressemitteilung der Linken im Mail-Postfach der taz. Man habe doch dazu etwas auf Facebook gemacht, hören wir aus der Pressestelle. In der Tat: Dort findet sich ein kurzer Video-Clip. Zwei Mädchen tanzen zu einem Song und halten Teller.
Nächste Sequenz: Die Fraktionschefin Heike Sudmann sitzt an einem Tisch vor leeren Tellern und blickt in die Kamera. Dann sagt sie, dass die Schulbehörde die Essenspreise erhöht und die Eltern gleich 30 Cent mehr zahlen müssen, weil die Stadt die Zuschüsse senkte. Dass die Erhöhung 20 Prozent in drei Jahren beträgt. Dass die Elternkammer fordert, … Ja, was? Ich kann nicht so schnell mitschreiben.
Tschupp, ist der Clip vorbei, die Mädchen tanzen noch kurz. Zurückspulen geht nicht, denn sofort spielt der Algorithmus das nächste Video ein. Zwei Männer sprechen über Sex in langen Partnerschaften. Dann spricht Iris Berben über Schönheitsbegriffe. Dann redet Richard David Precht mit großen Kopfhörern auf den Ohren. Ich suche wieder die Facebook-Seite der Abgeordneten. Stolpere über andere Clips von Linken-Politikern, die energisch in ihre kleinen Headset-Mikros sprechen, bevor ich die Sudmann wiederfinde. Drücke auf Play. Aber der Clip ist wieder zu schnell vorbei für meine langsamen Mitschreibfinger.
„Reels“ statt Pressemitteilung
Ich bin „lost“, um es mit der Jugendsprache zu sagen. Das heißt laut Chat-GPT „verloren, orientierungslos“. Diese hilfreiche App spielte mir gerade meine Tochter aufs Handy für all meine Fragen in Mediendingen. Diese Filmchen heißen „Reels“, das sind kurze, vertikale Videos zwischen 15 und 90 Sekunden.
Frage an Chat-GPT: „Warum machen Politiker Reels?“ Antwort: „Politiker machen Reels aus ziemlich strategischen Gründen – nicht nur, weil sie plötzlich Lust auf Tanz-Challenges haben.“ Sie erreichten damit Menschen, die sonst nie auf ihr Profil klickten. Denn „viele Wähler unter 30 konsumieren politische Inhalte fast nur noch über Kurzvideos (TikTok, Reels, YouTube, Shorts)“.
Tja, aber ich nicht. Nächster Tag, nächstes Thema. Uns erreicht ein Hilfeanruf. Die Stadt zahlt nach 20 Jahren kein Geld mehr fürs „Zentrum für Disability-Studies“, der Forschung für Behindertenrechte. Dazu könnte die Linke was zu sagen haben. Also ein Anruf bei der Pressestelle. Nein, dazu sei keine Pressemitteilung geplant, aber was auf Facebock mit Zitat ihrer Wissenschaftspolitikerin. Dieses sei nicht lang, bei Social Media müsse man auf den Punkt kommen, werde ich vorgewarnt.
Dort finde ich auf einer grünblauen Kachel das Gesicht von Sabine Ritter und den Satz: „Wer Inklusion und Teilhabe ernst meint, muss das Zentrum für Disability-Studies erhalten!“ Darüber werden der Facebook-Gemeinde noch ein paar Facts und Forderungen mitgeteilt. Es sei, so noch ein Tipp der Pressestelle, sehr empfehlenswert, auf Facebook, Insta & Co zu schauen.
Hm, aber da sind keine Pressemitteilungen mit Quellen. Offenbar meint man, uns Journalisten nicht mehr so zu brauchen. Es sei aber der Vollständigkeit halber gesagt, dass die man uns noch eine ältere Pressemitteilung aus Juni schickte und auch auf zwei Anfragen aus Juni und Juli hinwies, denn die Linksfraktion hatte das Thema längst am Wickel. Also alles gut.
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