Mitgründer über erste DDR-Antifa-Gruppe: „Wir waren die totalen Hippies“

Vor 30 Jahren wurde die erste Antifa-Gruppe in der DDR gegründet. Auch in der Nachwendegesellschaft herrscht noch ein Untertanengeist, findet Stephan Martin.

Hausbesetzung in Potsdam

Häuser zu besetzen, hier im Sommer 2000, waren schon immer einer Stärke der Potsdamer Antifa Foto: dpa

taz: Herr Martin, Sie haben vor 30 Jahren die erste Antifa-Gruppe der DDR in Potsdam mitgegründet. Derzeit erstarken die Rechten wieder in Ostdeutschland. Eine schlechte Bilanz, oder?

Stephan Martin: Wenn wir uns die aktuelle politische Entwicklung mit den vielen Anschlägen auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte angucken, müsste man tatsächlich sagen, dass wir krachend gescheitert sind. Da wiederholt sich die Entwicklung von Anfang der 1990er-Jahre.

Müsste?

Neben vielen Niederlagen, hatten wir auch eine ganze Menge Erfolge. Wir haben Freiräume erkämpft, also Orte, die eine funktionierende Struktur für politische Gruppen und kulturelle Institutionen bieten. Antifa war und ist für viele Menschen der Start in die Politik, eine prägende Erfahrung, die sie mit in ihr späteres politisches Engagement oder auch ihr Berufsleben nehmen.

Wie kam es überhaupt zur Gründung Ihrer Gruppe?

Es gab in dieser Zeit viele gewalttätige Übergriffe von Nazi-Skinheads vor allem auf Punks, aber auch auf Grufties oder HipHopper. Für uns war der zentrale Auslöser der Neonazi-Angriff auf das Konzert in der Ost-Berliner Zionskirche im Oktober 87. Das haben einige aus unserem Freundeskreis miterlebt. Danach war uns klar: Wir müssen etwas tun. Wir wollten an die Öffentlichkeit gehen und die Menschen darüber aufklären, dass es Neonazis in der DDR gibt. Das war ja ein Widerspruch in sich: Im antifaschistischen Selbstverständnis des Staates hätte es nazistische und rassistische Bewegungen gar nicht geben dürfen.

Wie haben Sie sich innerhalb dieses Staates verortet: als Staatsfeinde?

Wir haben uns mit dem Gesellschaftssystem der DDR und dessen Verlogenheit auseinandergesetzt, wenn wir über unser Weltbild oder die Ursachen von Faschismus und Rassismus diskutiert haben. Dennoch hätten wir uns nicht als Staatsfeinde oder oppositionelle Gruppe tituliert. Schließlich haben wir uns auf die antifaschistischen Grundlagen dieser Staatsverfassung bezogen. In den Augen von Partei, Staatssicherheit oder Volkspolizei wurden wir dagegen sehr wohl so angesehen. Als Punks galten wir als „negativ dekadente Jugendliche“.

48, Mitgründer der Antifa Potsdam 1987. In den 1990erJahren war er Hausbesetzer und blieb auch danach der Szene verbunden. Er ist Mitorganisator der Tagung 30 Jahre Antifa in Ostdeutschland in Potsdam.

Wie hat der Staat konkret auf Ihre Gruppe reagiert?

Unser erster Auftritt war eine Nacht-und-Nebel-Flugblattaktion. Die meisten Plakate waren schnell wieder weg. Doch noch heute kann man an der Rückseite des Filmmuseums einen damals mit der Hand gezeichneten Rahmen für so ein Flugblatt erkennen. Anschließend ist einer von uns „zugeführt“ worden, wie das damals hieß, und musste eine Aussage machen. Wir sind aber ganz offen mit unserer Aktion umgegangen. Wir wollten kein Geheimbund sein, sondern das System nur daran erinnern, dass es seine eigene Verfassung ernst nimmt. Es gab dann auch keine strafrechtlichen Konsequenzen.

Sie konnten weitermachen.

Nach der Aktion wussten wir, dass wir zu wenige sind und zu wenig Menschen erreichen. Wir haben dann eine größere Gruppe gegründet und angefangen, uns in kirchlichen Räumen zu treffen. Da hat dann die FDJ versucht, uns zu instrumentalisieren. Wir wollten uns da zwar nicht einreihen, andererseits wollten wir auch aus der Kirche raus. Einmal hat uns die FDJ-Bezirksleitung ermöglicht, in eine Schule zu gehen, um dort Aufklärungsarbeit zu machen.

Wie hat sich die Situation mit dem Mauerfall verändert?

Die Tagung findet am 1. und 2. Dezember in Potsdam statt. Das Auftaktpodium am Freitag steht unter dem Titel: „Warnung Neonazis in der DDR – Hintergründe antifaschistischen Engagements Ende der 1980er“. Beginn: 19 Uhr, Rechenzentrum, Dortusstraße 46.

Am Samstag folgen Arbeits- und Diskussionskreise, etwa zu Entwicklung der Nazi-Szene, Militanz, feministischen Kämpfen und Erinnerungspolitik. Beginn: 10 Uhr, Freiland Potsdam, Friedrich-Engels-Straße 22, Infos unter: https://afa-ost.de/

In der Phase der Euphorie während der Wende spielte es für die meisten DDR-Bürger schnell keine Rolle mehr, eine freie Gesellschaft zu entwickeln. Stattdessen rückten die Wünsche nach der D-Mark, der Einheit und Farbfernsehern in den Vordergrund. Noch im Winter 1989/90 kam es zu vielen militanten Angriffen von Neonazis auf unsere Leute und Treffpunkte. Das hat uns frustriert. Wir arbeiteten an Ideen, wie wir eine bessere Gesellschaft installieren können, und das einzige, was passierte, war, dass ein Haufen Nazis durch die Straßen marschierte. Im Westen hat man das nicht gesehen. Da hat man sich über die Deutschland-Fahnen und „Helmut“-Rufe gefreut.

Was passierte mit der Antifa-Gruppe in dieser Zeit?

Nach dem Mauerfall gehörten wir plötzlich zu den oppositionellen Gruppen. Wir saßen mit am runden Tisch, waren bei der Stasi-Auflösung dabei. Aber eigentlich war das nicht unsere Baustelle. Das waren nicht unsere Themen und nicht der Anspruch an unsere eigene Politik. Wir waren nicht in der Lage uns positiv in diesen Veränderungsprozess einzubringen. Relativ bald haben wir uns da wieder rausgezogen.

Was waren die Baustellen?

Antifaschismus stand absolut im Vordergrund unserer thematischen Beschäftigung. Außerdem haben wir die Zeit genutzt, um Freiräume für die Selbstorganisierung zu erkämpfen.

Welche Rolle hat Militanz ­gespielt?

Wir waren die totalen Hippies, Gewalt war nicht unser Ansatz. Aber spätestens nach dem dritten Nazi-Überfall auf ein Haus, in dem viele von uns gewohnt haben, sagten wir: Jetzt reicht es, jetzt müssen wir uns wehren. Einfach, weil die Nazis in unseren Wohnungen standen und uns die Köpfe einschlagen wollten. Die Volkspolizei war in dieser Zeit völlig überfordert. Es kam mehrfach vor, dass Zivilbeamte zu einem Treffpunkt von uns geschickt wurden, und uns davor warnten, dass gleich die Nazis kommen. Dann sind die wieder weggerannt oder haben aus der Ferne zugeschaut.

Hausbesetzung in Berlin

Auch in Ostberlin wurden Anfang der 90er-Jahre viele Häuser besetzt, wie hier in Lichtenberg. Foto: dpa

Welche Berührungspunkte gab es zu Antifas im Westen?

Anders als die Stasi das annahm, gab es die Kontakte erst nach dem Mauerfall. Da sind ganz unterschiedliche Lebenswelten aufeinander geprallt. Das ging schon mit der Sprache los. Auch wenn die DDR von sich behauptete, dass sie die Gleichberechtigung in Wort und Tat umgesetzt hatte, war es doch so, dass vielen westdeutschen Antifas im Osten die Ohren geschlackert haben. Etwa bei einem Wort wie „Muttiküsser“, ein ostdeutscher Begriff für jemanden, der nichts auf die Reihe kriegt. Wir waren also schnell konfrontiert mit der Frage: Habt ihr von Sexismus schon mal etwas gehört?

Hatten Sie?

In dieser Form nicht. Es gab nicht wenige Ost-Linke, die nach der Wende im Westen auf Demos gegangen sind und schmerzliche Erfahrungen mit den Frauen- und Lesbenblöcken gemacht haben. Das war ein Lernprozess. Grundsätzlich hat die Zusammenarbeit zwischen Ost- und West-Antifas dennoch geklappt. Es war ja nicht so, dass wir nicht in der Lage gewesen wären, uns politisch eine Meinung zu bilden und in der Welt zu verorten.

Wie entwickelte sich die Szene zur Nachwendezeit?

Die Szene in Potsdam war geprägt von einer großen Hausbesetzerbewegung. Nicht wenige, die zuvor in Friedrichshain in der Mainzer Straße gelebt haben, sind nach der ganzen Action nach Potsdam gekommen. Wir hatten hier zum Höhepunkt Dutzende besetzte Häuser.

Gibt es heute noch Spezifika ostdeutscher Antifagruppen?

„Nicht wenige Ost-Linke haben nach der Wende auf Demos schmerzliche Erfahrungen mit den Frauen- und Lesbenblöcken gemacht“

Der Wissensstand und der Sprachgebrauch haben sich angeglichen. Eher gibt es regionale Besonderheiten. Das Sozialgefüge ist ein anderes, zum Teil auch das gesellschaftliche Klima, die Multikulturalität. Das sind aber äußere Rahmenbedingungen. Es kommt aber immer noch vor, dass einem Menschen aus dem Westen erzählen wollen, warum der Hase lange Ohren hat und das Kaninchen kurze.

Wie erklären Sie sich, dass rechte Parteien im Osten erfolgreicher und rechte Jugendkulturen präsenter sind?

In der Wendezeit und danach wurde verkannt, dass keine zivilgesellschaftliche Demokratiebildung stattgefunden hat. Vor allem im Westen haben sich alle darauf verlassen, dass es schon funktioniert, wenn es die blühenden Landschaften gibt. Tatsächlich hat sich das Grundprinzip der DDR-Zeit fortgesetzt: Die Menschen bekommen nicht das Gefühl, dass sie an dieser Gesellschaft mitwirken können. Vorherrschend ist ein Staatsverständnis, dass davon ausgeht, dass der Wahlbürger brav sein Kreuzchen macht, sonst aber die Klappe hält. Das ist ein Untertanenverhältnis, das Hegemonialvorstellungen gegenüber scheinbar Minderwertigen befördert. Dazu kommen Probleme durch Deindustrialisierung, die starke Abwanderung und die geringere Durchmischung mit Menschen nicht-deutscher Herkunft.

Die Arbeit für Antifas ist nicht leichter geworden.

Unsere Gruppe war damals ein wesentlicher Faktor der Stadtpolitik. Zwar waren nicht alle mit uns einverstanden, aber wir wurden als Gesprächspartner ernst genommen.

Das ist heute anders?

Infolge der Extremismustheorien ist Antifa zum Spiegelpart der Rechtsextremen geworden. Der Begriff wird als Kampfbegriff missbraucht, um Leute als Terroristen zu diskreditieren. Dagegen werden die Westentaschen-Nazis der AfD als Demokraten verharmlost. Das Ergebnis eines solchen Staatsverständnisses ist eine Beliebigkeit, die Menschenfeindlichkeit kein Kontra mehr gibt.

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