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Mit tiefer Liebe zu den Bässen

Soundsystems wurden im Jamaika der frühen 1950er erfunden. Zeitgleich entstanden sie in Kolumbien und Brasilien. Heute sind die mobilen Musikanlagen gigantisch groß. Eine Spurensuche

Was mit einem klapprigen Ford, Baujahr 1929, begann, hat inzwischen Sattelschlepper-Format: ein „trio elétrico“ in Brasilien Foto: Dieter Telemans/visum

Von Ole Schulz

Eine Wand aus Lautsprechern, mehrere Meter breit und höher als ein Mensch. Ganz unten aufgereiht sind die Bassboxen, auf die es besonders ankommt. Dreht der DJ die Musik auf, vibriert der Asphalt und die Bässe werden buchstäblich körperlich spürbar: als tiefe Frequenzen mitten in die Magengrube. Eine solch dröhnende Boxenwand gehört zu jedem anständigen Soundsystem, wie kollektiv betriebene mobile Musikanlagen heute in aller Welt genannt werden.

Es heißt, ihre Geschichte habe in Jamaika begonnen. Aber interessanterweise sind Soundsystems ungefähr zeitgleich auch in anderen Teilen der Karibik und Lateinamerikas entstanden und haben mit lokalen Traditionen eigene Musikkulturen entwickelt, die bis heute lebendig sind.

In Jamaika war es der jamaikanisch-chinesische Geschäftsmann Tom Wong, der unter seinem Alias Tom the Great Sebastian in der Hauptstadt Kingston 1950 als Erster Stromgenerator, Plattenspieler, Verstärker und riesige Boxen auf einen Pritschenwagen packte und damit Partys auf den Straßen veranstaltete. Für ärmere Ja­mai­ka­ne­r*in­nen war das eine Sensation: Nun konnten sie Tanzmusik persönlich genießen, während der Eintritt zu den Ballsälen der Oberschicht ihre finanziellen Möglichkeiten überstieg. Dass sich die Soundsystems durchsetzten, hatte auch mit einem Mangel an Musikern zu tun: Viele von ihnen migrierten damals nach Großbritannien, andere spielten in den boomenden Hotels an der Nordküste ausschließlich für Touristen.

Anfänglich war es allein R&B aus den USA, der auf die Plattenteller kam. Seit Ende der 1950er Jahre entstanden in Jamaika unter dem Einfluss von Mento und Calypso aus Trinidad allmählich eigene Popstile – erst der shuffelnde Ska, dann der entspanntere Rocksteady, schließlich der basslastige Reggae. Während sich die Soundsystems von Kingston aus über die ganze Insel verbreiteten, wurde Pionier Tom Wong von anderen ausgestochen, darunter Duke Reid, Polizist und Inhaber eines Spirituo­sengeschäfts, mit seinem Trojan Soundsystem und Downbeat von Sir Coxsone Dodd, der 1963 das legendäre Reggae-Label Studio One gründete.

Im Laufe der Zeit begannen Soundsystems gegeneinander anzutreten. Solche soundclashes sind bis heute populär; „gewonnen“ hat am Ende derjenige, der am meisten Zuspruch vom Publikum erhält, weil er den fettesten Klang und die besten dubplates am Start hat – Unikat-Versionen beliebter Songs als Acetat-Singles, oft mit neuem Text, manche instrumental.

Rund 800 Kilometer von Kingston entfernt soll das erste Soundsystem sogar noch früher das Licht der Welt erblickt haben: 1937 im Viertel San Roque der kolumbianischen Küstenstadt Barranquilla. Eco del ritmo hieß es, „Echo des Rhythmus“. Hier deutet sich schon im Namen an, dass besondere klangliche Effekte zum Kern eines jeden Soundsystems gehören. An der Karibikküste Kolumbiens redet man allerdings von picós. Die fallen optisch stärker auf als ihre Artverwandten in Jamaika, da sie oft in knallbunten Farben und mit psychedelischen Motiven bemalt sind.

Traditionell spielen sie neben Salsa und dem Folkgenre Vallenato vor allem Champeta, einen kolumbianischen Stil, der deutlich vom kongolesischen Soukous und seinen perlenden Gitarren geprägt ist. Die große Bandbreite der picó-Musik lässt sich auf einer neu erschienenen Compilation hören, die von Edna Martinez, DJ und Musikkuratorin am Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW), zusammengestellt wurde. Was die picós bei allen Unterschieden mit den jamaikanischen Soundsystems verbindet, ist die tiefe Liebe zu den durchdringenden Bässen.

Es war im Jahr 1950, als sich beim Karneval in Salvador de Bahia, Brasilien, etwas ereignete, das Musikgeschichte schrieb: Osmar Macedo und „Dodô“ Nascimento, zwei musikbegeisterte Freunde – dem einen gehörte eine Autowerkstatt, der andere war Elektromechaniker –, hatten die Idee, ihre Gitarren mit Verstärker auf Osmars klapprigen Ford, Jahrgang 1929, zu hieven, um damit beim Karneval musizierend durch die Straßen zu fahren. Schon vorher war es Dodô gelungen, eine Gitarre elektrisch zu verstärken. Als dann 1951 noch ein dritter Freund hinzustieß, war das trio elétrico geboren – das „elektrische Trio“, eine Band auf Rädern also, eine Art Soundsystem für Livemusik.

Von Jahr zu Jahr wurden die trio elétricos größer, die Wattzahl der Verstärker stieg, ebenso wie Anzahl und Volumen der Boxen. Längst sind es große Sattelschlepper, auf deren Ladefläche ein Block aus mächtigen Lautsprechern steht – und auf ihnen die Band (die Techno-Trucks der Berliner Loveparade haben also Vorläufer, deren Anfänge vierzig Jahre früher liegen!). Heute noch sind die trio elétricos eine der wichtigsten Institutionen im „schwarzen“ Karneval von Bahia, der von afrikanischen Sklaven und ihren Nachfahren geprägten ehemaligen Hauptstadt Brasiliens.

Noch weiter im Norden des Landes als Bahia liegt an der Mündung des Amazonas in den Atlantik die Stadt Belém. Die abgelegene Metropole ist musikalisch stark von der Karibik beeinflusst, und es waren Schmugglerschiffe, die in den 1950er Jahren neben Parfüm und Whiskey auch Merengue-, Salsa- und Zouk-Platten ins abgelegene Belém brachten. Findige Bewohner begannen dann damit, auf Handkarren Plattenspieler mit Boxen zu installieren und außer Musik aus der Karibik auch lokale Stile wie Carimbó und Forró zu spielen. Mit der Zeit wurden die Gefährte, die sie dabei benutzten, größer und größer – und auch technisch anspruchsvoller.

Inzwischen sind Soundsysteme à la Belém riesige Ungetüme und unter der Bezeichnung aparelhagems („Geräte“, „Stereoanlage“) geläufig. Eines der derzeit größten heißt Crocodilo. Es hat die Form eines Krokodils, in dessen Mitte der DJ thront. Die langgestreckte Schnauze des Krokodils lässt sich aufklappen, stößt Rauch aus und und wird von blinkenden LED-Leuchten illuminiert. Die Qualität eines aparelhagem werde an der Fähigkeit gemessen, das beste Erlebnis in Bezug auf Licht, Ton und Spektakel zu bieten, heißt es in einer Untersuchung.

Man sollte sich das nicht entgehen lassen – auch wenn es an die körperlichen Grenzen geht

Der Ruling Sound des aparelhagem ist inzwischen eingängiges tecnobrega-Gebolze, die elektronische Variante des Brega, der übersetzt so viel wie „Kitsch“ bedeutet. Gleichwohl ist tecnobrega wie die aparelhagems eine „periphere Kultur“ geblieben. Andererseits haben die Partys in Belém inzwischen große ökonomische Bedeutung, Tausende Menschen leben davon (und für sie) – sie gelten als erfolgreiches Beispiel einer informellen Ökonomie im Kultursektor und sind für die Identität Beléms prägend.

Wer in der Karibik oder Lateinamerika unterwegs ist, sollte sich den Auftritt eines lokalen Soundsystems nicht entgehen lassen – auch wenn das an die körperlichen Grenzen gehen kann. Meine härteste Erfahrung war vor rund zehn Jahren in Rio de Janeiro: DJ Pernalonga („Langbein“), einer der wenigen Schwulen in der Baile-Funk-Szene der Stadt, legte in der Favela Complexo do Lins ratternden Elektro auf, zu dem schwitzende Tän­ze­r*in­nen ihre Körper aneinander rieben.

Um mich herum schnüffelten viele an der Klebstoff-artigen Droge loló, gelegentlich reckte jemand inmitten der Menge angeberisch eine Waffe in die Höhe (und dem Fotografen, der mich begleitete, wurde „zum Spaß“ zwischendurch eine Knarre an den Kopf gehalten). Sonst blieb alles friedlich und freundlich. Nur war die Musik so laut, dass ich danach noch tagelang taub war. Vergessen werde ich diese Nacht jedoch in meinem ganzen Leben nicht mehr.

Album: Verschiedene: „Edna Martinez presents picó: Sound System Culture from the Colombian Caribbean“ (Strut Records / !K7, Indigo)

Video: „Amplified Roots“ 3 Episoden über Soundsystems in Barranquilla, Belém und Mexiko-Stadt bei Youtube

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