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Mit dem Sender im Rucksack zur Schule

„Kid Track“ ist ein Nebenprodukt aus der Entwicklung elektronischer Diebstahlsicherungen

von RAFAEL ROBERT PILSCEK

Noch hat das Ortungsgerät, mit dem besorgte Eltern künftig elektronisch überprüfen können, wo sich ihr Kind aufhält, einen eher abschreckenden Namen. Das Testprodukt firmiert wenige Wochen vor seiner Markteinführung Mitte Juli unter dem negativ besetzten Arbeitstitel „Kid track“. Wie immer das Ding, das das Kind „verfolgt“, am Ende im Handel heißen wird – für seinen Erfinder Ingo Brumm steht jetzt schon fest, dass sein Hightechgerät den Angstnerv von vielen Eltern treffen wird. „Wenn man die Zeitungen aufschlägt“, sagt Brumm, „liest man doch ständig von rumlaufenden Pädophilen.“

Geschäft mit der Angst

Und so sollen die Kleinen vor diesen geschützt werden: Der Sprössling trägt im Rucksack, am Gürtel oder in der Jackentasche einen Sender. Der ist leicht wie eine Musikkassette und groß wie eine Zigarettenschachtel. Verlässt das Kind – aus welchem Grund auch immer – den vorher elektronisch fixierten Korridor, erhält ein Elternteil auf sein Mobiltelefon 30 Sekunden später eine alarmierende Textnachricht. Es erfährt im Handy-Display den genauen Orts- und Straßennamen sowie die Straßennummer des Hauses, wohin sich das Kind begeben hat, nachdem es den elektronischen Zaun übersprungen hat – oder wohin es verschleppt wurde.

„Kid Track“ ist ein Nebenprodukt aus der Entwicklung elektronischer Diebstahlsicherungen für Pkws und Lkws mit dem Namen „Car Track“. Technische Systeme wie GPS und GSM haben beides ermöglicht (siehe Kasten). „Das Neue an unserer Entwicklung“, sagt Brumm, Inhaber der IBE Navigationssysteme GmbH, „ist die Automatisierung der Abläufe.“ Der von ihm eingerichtete Server errechne ohne Kosten treibende Mithilfe von Call-Center-Mitarbeitern die genauen Längen- und Breitengrade des Senderaufenthaltes. Damit ist diese Technik auch für Otto Normalverbraucher bezahlbar geworden. Knapp 100 Mark soll die Anschaffung der Ausrüstung im Handel kosten, lediglich 25 Mark soll die monatliche Grundgebühr betragen.

Big Mother für Kids? Psychologen, Kriminologen und auch die Polizei kleiden ihre Empörung in wissenschaftliche Worte. Frank Baumgärtel vom Berufsverband deutscher Psychologen sieht in „Kid Track“ vor allem das Geschäft mit der elterlichen Angst: „Aus sozialpsychologischer Sicht muss ich sagen, dass mit diesem Gerät die allgemeine Kriminalitätshysterie angeheizt wird.“ Umfragen aus den letzten Jahren verzeichnen zwar ein stark gestiegenes Sicherheitsbedürfnis bei vielen Bürgern. Dabei werde aber, konstatieren Wissenschaftler, die Kluft zwischen tatsächlichem Risiko und empfundener Gefahr immer größer. Auch Kriminologen wie Michael Lindenberg kennen aus Studien das Phänomen der Kriminalitätsfurcht: Die, die am meisten Angst haben, sind paradoxerweise die, die am wenigsten gefährdet sind.

Lindenberg verweist auf eine weitere grundlegende Glaubensfrage, an die „Kid Track“ rührt: Kann man mit Hilfe eines technischen Geräts soziale Probleme lösen? Der Hamburger Verbrechensforscher beantwortet die Frage gleich mit: „Als Vater sage ich: Nein, das geht nicht, und als Kriminologe sage ich auch: Nein, das haut nicht hin.“ Das Ortungsgerät verhindere Straftaten nicht, es schaffe sogar neue Probleme.

Emotionale Entlastung von Eltern

Was ist, fragt Lindenberg, wenn das Kind zu einem Kiosk außerhalb des elektronischen Zauns geht und den Handy-Alarm auslöst? Wird die Mutter sofort die Polizei rufen? Was ist, wenn das öfter vorkommt? Was, wenn ein Verbrecher das Kind in den Keller eines Wohnhauses verbringt? Dort kann „Kid Track“ das Kind gar nicht orten, da es nur unter freiem Himmel funktioniert, weil es den direkten Kontakt durch die Luft zu den Navigations-Satelliten benötigt.

„Zusätzliche Probleme tauchen auf, wenn man zusätzliche Mittel einsetzt“, nennt Lindenberg diese Dynamik. Die Einführung neuer Techniken im Kampf gegen die Kriminalität – so etwa die Verstärkung der kameragestützten Überwachung von zentralen Plätzen in Großstädten – ist auch nicht jedem Polizisten recht. Zwar verweist der Rechts- und Sozialwissenschaftler von der Polizeiführungsakademie in Münster, Hans-Joachim Heuer, auf den gesetzlichen Auftrag der Polizei, sich um die Verbrechensverhütung zu kümmern. Leute wie er stellen bei der Frage nach dem Einsatz von „Kid Track“ aber vor allem Überlegungen an, die nicht zuvorderst polizeiliche sind. Heuer sagt das so: „Kid Track führt zur emotionalen Entlastung jener Eltern, die ihre Face-to-face-Aufgabe gegenüber den eigenen Kindern sträflich vernachlässigen.“

Heuer weist auch auf einen breiten Konsens unter Rechtswissenschaftlern hin: „Wir wollen geradezu vermeiden, eine Gesellschaft zu werden, die total durchschaubar und damit überwachbar wird.“ Dagegen meint Helmut Rüster von der Opferschutzorganisation „Weißer Ring“, die der mittlerweile verstorbene „Aktenzeichen XY“-Moderator Eduard Zimmermann gegründet hatte: „Es gibt ängstliche Menschen, daher muss man solchen Menschen Angebote wie ,Kid Track‘ machen. Die erhöhen das eigene Sicherheitsgefühl.“ Gerade Vorbeugung von Verbrechen, sagt Rüster, habe nicht den Stellenwert bei Politik und Polizei, den sie verdiene, da ihre Erfolge nicht messbar nachzuweisen seien.

Überhaupt gebe es eine hohe Kriminalität, keine geringe, wie von vielen behauptet werde. Rüsters Rechnung: Zwar sinke die Gesamtkriminalität, aber gerade die Zahl der Körperverletzungen sei im letzten Jahr um 10 Prozent gestiegen. Während der „Weiße Ring“ die Statistik heranzieht, um energisch für das Ausprobieren von Geräten wie „Kid Track“ zu plädieren, belegt das Datenmaterial auch, dass die Zielgruppe des neuen Überwachungsfunks, die Kinder bis 14 Jahre, bei 100.000 Einwohnern im letzten Jahr in nur 2,8 Fällen von vollendeten Gewalttaten betroffen sind und zudem häufig von den eigenen Verwandten und Bekannten misshandelt wurden und nicht von einer Armee von „frei laufenden Pädophilen“, wie Unternehmer Brumm suggeriert.

Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren dagegen wurden im letzten Jahr, wieder bezogen auf 100.000 Einwohner, in 36,4 Fällen Opfer von Gewalt. Diese Problemgruppe jedoch ist heutzutage eh ständig über Mobilfunk erreichbar und würde daher „Kid Track“ wohl kaum mit sich tragen.

Auf das Gerät angesprochen, schwanken die Mütter der „Elterninitiative vermisste Kinder“ zwischen absoluter Ablehnung und totaler Euphorie. Ihre Gruppe sucht über das Internet nach bundesweit vermissten Kindern (siehe Kasten). Die AG-Mitarbeiter kennen aus eigener Erfahrung die oft große Angst der Väter und Mütter um ihre Kleinen. Auch sie sorgen sich häufig um ihre ganz Kleinen, wenn diese verspätet nach Hause kommen oder sich ohne Absprache nach der Schule bei Freunden aufhalten. „Aber je länger wir darüber sprachen“, sagt AG-Sprecherin Monika Bruhns, „desto mehr wurde das Gerät inakzeptabel für uns.“ Ihr Fazit: „All das, was wir von so einem Gerät erwarten, müssen wir selber erbringen.“

Sensible Branche

„Kid Track“ erinnert an die elektronische Fußfessel, die noch in den Achtzigerjahren überall als exotische Neuigkeit angesehen wurde. Die generelle Suche nach Alternativen zum völlig überforderten und teuren US-amerikanischen Strafvollzugssystem brachte die Technik dann immer stärker ins Spiel. Nach einem ersten Versuch im Jahr 1984 mit dem elektronisch überwachten Hausarrest hatten bereits vier Jahr später 33 US-Bundesstaaten solche Programme im Strafsystem. Heute werden computergestützte Überwachungssysteme, die über das Telefonnetz arbeiten, in vielen Ländern angewendet. Nach den USA und Großbritannien haben auch Kanada, Australien, Neuseeland, Israel sowie die Niederlande diese Sanktionsform eingeführt.

Auch in Deutschland ist seit Mai dieses Jahres in Hessen ein Modellversuch zur elektronischen Fußfessel angelaufen. Der hessische Justizminister Christean Wagner (CDU) lässt Tätern, die gegen Bewährungsauflagen verstoßen haben, zur Überwachung einen Sender am Fußgelenk anbringen. Der hessische Testlauf ist auf zwei Jahre angelegt und nimmt nur Freiwillige auf. Vermutlich ist dieses Projekt der erste Einstieg in den bundesweiten elektronischen Hausarrest für bestimmte Straftäter.

Der Techniker Ingo Brumm will noch in diesem Juni „Kid Track“-Muster zur Erprobung und zur Produktwerbung an Schulen in der Nordheide verteilen lassen, wo seine Firma ihren Sitz hat. Bald beginnt nach seinen Aussagen die Produktion in Mölln, dann folgt „nach allen Regeln der Kunst“ die Werbekampagne.

Brumm ist Unternehmer in einer sensiblen Branche. Dazu passt, dass er zu seiner Person so gut wie nichts sagen will. Der gelernte Fernmeldetechniker sagt aber voraus, in naher Zukunft werde jeder ein Ortungsgerät ähnlich wie „Kid Track“ tragen – wahlweise als Band oder Uhr am Arm oder um den Hals. Wo genau, das entscheide jeder selbst.

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