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Gewalt im WestjordanlandMit dem Bulldozer durch die Camps

Ein neuer Bericht von Human Rights Watch wirft Israel Kriegsverbrechen in den Flüchtlingslagern des Westjordanlands vor. Mindestens 850 Häuser sind nicht mehr bewohnbar.

Immer wieder gibt es im Flüchtlingslager Tulkarm Auseinandersetzungen der lokalen Zivilbevölkerung mit dem Militär Foto: Mohammad Nazal/imago

In einer Straße aus Schotter und Staub, vor heruntergelassenen Rolltoren, stehen Frauen in Kopftüchern und langen Kleidern und streiten sich mit Soldaten in olivgrüner Uniform mit Maschinengewehren im Anschlag. „Wir werden zurückkehren“, schreien die Frauen, einige heben Protestschilder, andere Kinder in die Luft.

Die staubige Straße befindet sich in der Nähe von Tulkarem, einer Stadt im Westen des Westjordanlands, die Szene ist Teil eines Videos, das vor zwei Tagen in den sozialen Netzwerken zirkulierte. Es zeigt Menschen am Eingang des Flüchtlingslagers Nur Shams, die vergeblich versuchen, zu ihren Häusern im Camp zurückzukehren. Israelische Soldaten verhindern dies, zerren die Demonstrierenden weg vor den Augen der Fotografen. Ein Journalist wird dabei verletzt.

Die Männer und Frauen protestieren, weil sie vor zehn Monaten aus ihrem Wohnort vertrieben wurden. So wie die Ein­woh­ne­r*in­nen zwei weiterer Camps im Westjordanland – Dschenin und Tulkarm. Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, findet die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). In einem neuen Bericht wirft HRW der israelischen Regierung Kriegsverbrechen und Verletzungen des humanitären Völkerrechts in den drei Flüchtlingslagern vor.

Während der sogenannten Militäroperation „Eiserne Mauer“ im Januar und Februar 2025 hat Israel die Bevölkerung der drei Camps vertrieben, etwa 32.000 Menschen. Deren Häuser sind teilweise zerstört oder beschädigt worden, mindestens 850 sind nicht mehr bewohnbar. Bislang ist es den Ein­woh­ne­r*in­nen nicht gestattet, nach Hause zurückzukehren. Menschen, die dies versuchten, würden mit Schüssen zurückgewiesen. Laut der Organisation ist dies Teil einer Politik der ethnischen Säuberung.

Mangel an alternativer Versorgung

Diese sei „kein juristischer Straftatbestand, beschreibt aber tatsächlich, wie methodisch die israelischen Streitkräfte da vorgegangen sind, um 32.000 Menschen aus diesen Lagern zu vertreiben und ihnen dann die Rückkehr in diese Lager zu verwehren“, sagt Philipp Frisch, Direktor von HRW Deutschland. HRW fordert, dass Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden und internationale Regierungen gezielt Sanktionen verhängen. Deutschlands jüngste Aufhebung des Exportstopps für Rüstungsgüter an Israel sei ein gefährliches Signal, so Frisch.

Die Gewalt bei der Vertreibung spiele ebenfalls eine Rolle, so wie der Mangel an alternativer Versorgung. Wohngebäude seien mit Bulldozern plattgemacht worden, die Menschen per Lautsprecher und Drohnen aufgefordert worden, ihre Häuser zu verlassen, schreibt die Organisation. Viele suchten Zuflucht bei Verwandten in den Städten oder in Moscheen und Schulen. Doch wann und ob sie in die Camps zurückkehren können, ist unklar.

Die Genfer Konventionen sehen vor, dass Vertreibungen nur aus unumgänglichen militärischen Gründen erfolgen können. Die Bevölkerung muss dann humanitär versorgt werden und zurückgelassen werden, sobald die Gefechte in dem Gebiet zu Ende sind.

Palästinensische Flüchtlingslager im Westjordanland sind wie kleine Städte organisiert, mit Häusern aus Zement, Restaurants und Geschäften. Die Familien leben dort seit den Flucht- und Vertreibungswellen in den Jahren 1948 und 1967. Das Recht auf Rückkehr in ihre Häuser auf heutigem israelischem Boden ist ein wichtiger Streitpunkt bei den Verhandlungen im Nahostkonflikt.

„Umgestalten und stabilisieren“

Zu den Vorwürfen schreibt das israelische Militär, die Operation in den Camps sei erfolgt, weil die Camps eine Sicherheitsbedrohung darstellten. Mitglieder von Terrorgruppen, unter anderem der Hamas, wären dort zunehmend anwesend. Die Präsenz von Militanten beschrieb auch die taz. Die dicht bebauten Siedlungen seien dafür ideal gewesen.

Bei der Operation habe man Waffen und Bombenlabore entdeckt. Die Suche habe viel Zeit in Anspruch genommen, und die Streitkräfte würden weiterhin an der Beseitigung solcher Infrastruktur arbeiten. Dabei will das Militär das Gebiet „umgestalten und stabilisieren“. Man wolle neue Straßen bauen, was den Abriss von Gebäuden erfordert, und die Be­woh­ne­r*in­nen hätten genug Zeit gehabt, um vor Gericht dagegen vorzugehen. Das Oberste Zivilgericht habe deren Einsprüche abgelehnt.

Die Frage, ob und wann die Camp­be­woh­ne­r*in­nen zurückkehren dürfen, ließen die israelischen Behörden unbeantwortet.

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