Misstrauensvotum in Griechenland: Vertuschen und verschleiern
In Zusammenhang mit einem Zugunglück sieht sich die konservative Regierung mit einem Misstrauensvotum konfrontiert. Dieses dürfte scheitern.
Den am Dienstagnachmittag eingereichten Misstrauensantrag unterzeichneten zudem die Abgeordneten der führenden Athener Oppositionspartei Syriza (36 Sitze), deren jüngste Abspaltung „Neue Linke“ (11 Sitze) sowie der linkskonservative „Kurs der Freiheit“ (6 Sitze). Ferner werden die übrigen vier Oppositionsparteien – neben der Kommunistischen Partei noch die drei Rechtsparteien „Griechische Lösung“, „Der Sieg“ sowie „Die Spartaner“ – der Regierung Mitsotakis ihr Misstrauen aussprechen.
Doch das wird nicht reichen. Denn schon jetzt ist klar: die 158 Abgeordneten der konservativen Nea Dimokratia (ND) werden Regierungschef Mitsotakis bei der Abstimmung in der Nacht zu Freitag abermals nicht die Gefolgschaft kündigen. Im Gegenteil: das Misstrauensvotum wird den Zusammenhalt in der ND vor den Europawahlen am 9. Juni eher festigen.
Dabei sind die gegen die Regierung Mitsotakis neu erhobenen Vorwürfe heftig. Anlass für das Misstrauensvotum ist eine neue Episode in der nicht nur strafrechtlich relevanten Aufarbeitung des verheerenden Zugunglücks im zentralgriechischen Tempital am 28. Februar 2023.
Frontaler Zusammenstoß
Bei dem schwersten Bahnunglück in der Geschichte Griechenlands waren ein Intercity und ein Güterzug frontal zusammengestoßen, nachdem sie bereits 19 Minuten lang auf demselben Gleis gefahren waren. 57 meist junge Menschen wurden getötet, viele weitere zum Teil schwer verletzt.
Die angesehene Athener Sonntagszeitung To Vima hatte am Sonntag berichtet, dass unmittelbar nach der Zugkatastrophe an regierungsnahe Medien lancierte und somit an die Öffentlichkeit gelangte Aufzeichnungen von Gesprächen zwischen Bahnmitarbeitern am Tag des Unglücks manipuliert gewesen seien. Dadurch sollte der Eindruck erweckt werden, dass das Unglück allein durch menschliches Versagen verursacht worden sei.
Konkret: In einer der unmittelbar nach dem Unglück veröffentlichten und nun umstrittenen Aufzeichnungen erteilt der Stationsvorsteher einem nicht namentlich genannten Lokführer die Freigabe für die Nutzung eines Gleises. Wie To Vima nun berichtete, sprach der Stationsvorsteher jedoch mit dem Fahrer eines früheren Zuges und nicht jenes Zuges, der dann verunglückte.
Um dies zu vertuschen, sei der Name des Lokführers absichtlich entfernt worden. Wer die mutmaßliche Manipulation vornahm, ist unklar. Laut To Vima könnten jedoch Unbefugte Zugriff auf Beweismaterial bekommen haben, das nur den Ermittlern zur Verfügung stehen darf. Doch wer sind die Unbefugten?
Schwere Versäumnisse
Pikanterweise hatte Mitsotakis höchstpersönlich in einer Fernsehansprache zeitnah zu der Veröffentlichung des offenbar manipulierten Dialogs gesagt, „alles“ deute auf menschliches Versagen als Unglücksursache hin. Dies gibt Kritikern Nahrung, dass dieses schnell präsentierte Narrativ der Regierung nur dazu dienen soll, ihre schweren Versäumnisse bis zum Unglückstag am 28. Februar 2023 zu negieren.
Was womöglich noch schwerer wiegt, ist das Verwischen der Spuren sowie die Vertuschung im großen Stil nach dem 28. Februar 2023 – unter der Ägide der Regierung. Der Umstand, dass am 4. März 2023 der Unfallort per Verfügung unrechtmäßig verändert wurde, indem zunächst die Waggons der beiden Züge entfernt, das Gelände geräumt, die Erde ausgehoben und mit Lastwagen auf ein Privatgrundstück gebracht sowie der Unfallort zubetoniert wurde, verstärkt nicht nur die Kritik der Opposition. Sie hat bei den Angehörigen der Opfer pures Entsetzen ausgelöst.
Ihre Empörung wird durch neueste Entdeckungen durch von ihnen privat beaufragte Experten befeuert. Diese haben hochexplosive Chemikalien am Unfallort feststellen können, die offenbar illegal im Güterzug transportiert wurden.
Dies könnte eine Erklärung für den tragischen Tod vieler Intercity-Passagiere sein, die nach dubiosen Explosionen bei Lufttemperaturen von bis zu 1.400 Grad Celsius pulverisiert wurden. Doch alle Videoaufnahmen über den Güterzug sind gelöscht worden. Der Vorwurf der Angehörigen lautet: auf Anweisung der Regierung Mitsotakis seien wertvolle Beweise mutmaßlich zerstört worden.
Breite Zustimmung
Das sieht die Athener Opposition auch so. Die Regierung Mitsotakis habe „keine Wahl, er (Mitsotakis) wird herkommen (ins Parlament), um seine Handlungen zu rechtfertigen“, betonte der Pasok-Chef Nikos Androulakis am Dienstag in einer Rede. Androulakis warf dem Regierungschef vor, die Wahrheit zu verbergen.
Die Angehörigen der Tempi-Opfer gehen einen Schritt weiter. Über die Petitions-Plattform www.change.org haben sie mit Stand vom Donnerstag um 12 Uhr MEZ bereits 1.348.113 Unterschriften für eine Verfassungsänderung gesammelt, um die Immunität von griechischen Ministern in strafrechtlich relevanten Sachen aufheben zu lassen. Noch nie fand ein Anliegen der Zivilgesellschaft in Griechenland eine so breite Zustimmung bei der Bevölkerung.
Fest steht: die Liste der Skandale der Regierung Mitsotakis mit Blick auf die Aushöhlung des Rechtsstaates wird immer länger. Den Anfang machte ein im Frühjahr 2022 bekannt gewordener gigantischer Abhörskandal. Dabei sollen mehr als einhundert Politiker, Wirtschaftsvertreter, Militärangehörige sowie Medienschaffende vom Griechischen Geheimdienst EYP ausgespäht worden sein.
Premier Mitsotakis hatte den EYP unter seine direkte Kontrolle gestellt. Dennoch streitet er bis heute ab, irgendetwas von den Lauschangriffen gewusst zu haben. An einer Aufklärung hat Mitsotakis offenkundig kein Interesse. Im Gegenteil: Mitsotakis und Co. blockierten, vertuschten, verwischten Spuren – zuallererst digitale Spuren. Der Fall bleibt unaufgeklärt.
Klagen und Strafanzeigen
Hohe Wellen schlug zuletzt ein Skandal um den Erwerb von E-Mail-Adressen. Die ND-Europaabgeordnete Anna-Michele Asimakopoulou musste schließlich kleinlaut einräumen, vor den anstehenden Europawahlen direkt vom Athener Innenministerium hunderte E-Mail-Adressen von wahlberechtigten Auslandsgriechen erhalten zu haben und diese gezielt angeschrieben zu haben. Unterdessen sind in der Sache wegen des Verstoßes gegen den Datenschutz mehrere Dutzend Klagen erhoben und Strafanzeigen gestellt worden.
„Die Führung des Landes kann nicht länger einer Regierung überlassen werden, die systematisch die Demokratie und ihre Institutionen untergräbt“, so Pasok-Chef Androulakis. Die Athener Tageszeitung Dimokratia wählte in ihrer Dienstagsausgabe deutlich drastischere Worte: „Das ist eine kriminelle Vereinigung“. Direkt neben dem Titel auf Seite eins prangte das Bild von Premier Mitsotakis.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW