Misshandelte Heimkinder von Godhavn: Dänemark entschuldigt sich
Die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen bittet die Heimkinder offiziell um Verzeihung. Die haben seit Jahren darauf gewartet.
Die Sozialdemokratin löste damit ein im Wahlkampf gegebenes Versprechen ein: Eine ihrer ersten Amtshandlungen werde eine Entschuldigung für dieses Kapitel sein, das „zu den dunkelsten der jüngeren dänischen Geschichte gehört“.
In der dänischen Öffentlichkeit werden sie „Godhavnsdrengene“ genannt, die Jungen von Godhavn. Godhavn war 1893 als „Erziehungsheim“ für männliche Kinder und Jugendliche im Alter von 9 bis 20 Jahren eingerichtet worden, die entweder Waisen waren oder als „schwer erziehbar“ eingestuft wurden. Bis zu 80 Jungen waren hier gleichzeitig untergebracht. Und Godhavn wurde zum Symbol für Missstände in vielen Kinderheimen.
Am 1. Februar 2005 hatte das dänische Fernsehen eine Dokumentation über Godhavn ausgestrahlt, in der ehemalige Heimkinder und Personal dieser Heime von schweren psychischen und physischen Misshandlungen, sexuellen Übergriffen und über die Durchführung medizinischer Experimente mit Psychopharmaka berichteten. Die Enthüllungen lösten eine umfassende öffentliche Debatte aus.
Irgendjemand musste Verantwortung übernehmen
Im Jahr 2009 gab das Sozialministerium eine Studie in Auftrag über die Zustände, die in neunzehn dänischen Kinderheimen, darunter auch Godhavn in den Jahren von 1945 bis 1976, herrschten. Der 2011 veröffentlichte „Godhavnsrapport“ bezifferte die Zahl der in allen Heimen untergebrachten Kinder auf zwischen 9.400 (1947) und 6.356 (1976) jährlich und bestätigte mit weiteren Beispielen im Wesentlichen die bis dahin erhobenen Anklagen.
Ehemalige Heimkinder gründeten eine Interessenorganisation, die eine offizielle Entschuldigung forderte. Eine solche Entschuldigung wurde aber von allen Regierungen, gleich ob bürgerlich oder sozialdemokratisch geführt, bislang abgelehnt. Im Jahr 2018 scheiterte ein parlamentarischer Vorstoß für eine Entschuldigung an einer Mehrheit der rechten Parteien im Folketing.
Poul-Erik Rasmussen, Vorsitzender der Interessenorganisation Godhavnsdrengene, betonte die Wichtigkeit des Schritts: „Irgendjemand muss doch die Verantwortung übernehmen. Es geht gar nicht um die, die uns geschlagen, misshandelt und missbraucht haben, sondern um diejenigen, die die Aufsicht haben sollten. Deswegen muss der Staat sich dafür entschuldigen.“
Die jetzige Entschuldigung kann die Aussichten auf Schadensersatz verbessern. Ein Musterprozess gegen den Staat wegen verletzter Aufsichtspflicht war 2017 wegen Verjährung gescheitert. Das dänische Parlament verabschiedete aber 2018 ein Gesetz, das jegliche Verjährungsfristen bei Übergriffen auf Kinder nachträglich aufhob. Rechtsanwalt Bjørn Elmquist, der den Prozess seinerzeit führte, erwartet jetzt neue Klagen. Es sei denn, Kopenhagen tue nun auch den nächsten logischen Schritt und gestehe geschädigten Heimkindern – ähnlich wie Norwegen und Schweden das bereits getan haben – von sich aus Schadensersatz zu.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen