Missbrauch in der katholischen Kirche: Gläubig bleibt sie trotzdem

Doris Reisinger wirft zwei Priestern vor, sie missbraucht zu haben. Das oberste Gericht der katholischen Kirche hat einen nun freigesprochen.

Doris Reisinger verschränkt die Arme und guckt in die Kamera

Doris Reisinger kämpft weiter, denn sie will eine Reform in der Kirche anstoßen Foto: Bernd Hartung

Doris Reisinger strahlt Ruhe aus. Sie hält oft kurz inne, bevor sie auf Fragen antwortet und ist trotz geschäftigem Treiben um sie herum fokussiert. Sie wird niemals laut oder aufgebracht. Und dabei hätte sie, weiß Gott, gute Gründe dafür!

Im Jahr 2003 trat Doris Reisinger, geborene Wagner, der sogenannten geistlichen Familie „Das Werk“, einer kleinen ordensähnlichen Gemeinschaft der katholischen Kirche bei. Gegründet 1938, wurde die Gemeinschaft 2001 von Papst Johannes Paul II. anerkannt. Seitdem ist eine Behörde des Vatikan für die Gemeinschaft zuständig.

Nach nur acht Jahren verlässt Reisinger die Gemeinschaft im Jahr 2011 wieder. Die meiste Zeit hatte sie in der Niederlassung in Rom verbracht. Drei Jahre später tritt sie erstmals in die Öffentlichkeit, erzählt – zunächst anonymisiert – von sektenähnlichen Strukturen, Manipulation, Kontrolle und abwegigen Verboten in der Gemeinschaft; und davon, von zwei Priestern sexuell belästigt und missbraucht worden zu sein. Einer der Priester forderte Ende Januar 2019, dass die gegen ihn gerichteten Vorwürfe in einem kirchenrechtlichen Prozess aufgeklärt werden, nachdem sein Klarname ab Herbst 2018 in Medienberichten aufgetaucht war. Am 15. Mai hat das oberste Gericht der katholischen Kirche, die „Apostolische Signatur“, ihn nun freigesprochen.

„Das Urteil selbst wundert mich eigentlich nicht, sondern eher, wie plump das Ganze durchgeführt wurde“, sagt Reisinger. „Ich hätte schon erwartet, dass die Signatur wenigstens versucht, so zu tun, als ob sie ein richtiges Verfahren daraus machen, das wenigstens halbwegs aktuellen Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit entspricht.“

Absage aus Rom

Damit meint sie nicht nur den Umstand, dass ihre und die Zeugenaussage einer ehemaligen Mitschwester, die dem Freigesprochenen ebenfalls sexuelle Belästigung vorwirft, nur schriftlich entgegengenommen wurden. Sondern vor allem die Art und Weise, wie mit ihr kommuniziert wurde und welche Informationen ihr mitgeteilt wurden. In einem ersten Brief der Signatur, den Reisinger am 15. Februar erhielt, wurde sie gebeten, bei der Wahrheitsfindung mitzuwirken, sich vernehmen zu lassen und, wenn sie das wolle, bis zum 28. Februar ein „Schriftstück“ einzureichen. Am 25. Februar erhielt sie eine Einladung zur Anhörung mit drei verschiedenen Terminvorschlägen, von denen nur einer, nämlich der 16. März, für sie in Frage kam.

Ihr „Schriftstück“ – mit ihrer Aussage und ihrer Terminpräferenz gab sie am 26. Februar in die Post. Laut kryptischer Sendungsverfolgung und Information der Signatur kam ihr Brief allerdings erst am 14. März dort an. Anders als per Post durfte sie das höchste Kirchengericht nicht kontaktieren. Am 26. März erhielt sie dann das letzte ­Schreiben aus Rom, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass nun doch keine Vernehmung stattfinden würde, da das Rechtshilfegesuch zurückgezogen worden sei. Zwischendurch hatte Reisinger Kontakt mit dem Kirchengericht in Mainz aufgenommen, da der Vernehmungstermin dorthin verlegt wurde. Mit der Absage aus Rom war dieser allerdings aufgehoben.

Kirchenrechtler*innen hatten ihr erklärt, dass es sich um Vorermittlungen gehandelt haben muss und erst in einem nächsten Schritt ein Prozess beginnen würde, bei dem sie angehört werden müsse. Ob und wann ein solcher Prozess begann, erfuhr sie von der Signatur jedoch nie. Stattdessen las Reisinger am 16. Mai im unabhängigen Religionsmagazin Herder Korrespondenz, dass der Beschuldigte freigesprochen wurde. Weil der Artikel auf der Website des Magazins so detailliert ist, vermutet Reisinger, dass der Freigesprochene dem Autoren das Dekret der Signatur vorgelegt hat, welches eigentlich der Geheimhaltungspflicht unterliegen müsste. Sie selbst habe kein Recht, das Dekret einzusehen oder Einspruch einzulegen. Sie könnte sich höchstens an den Papst wenden. „Aber das ist vollkommen aussichtslos.“ Auch sie wurde in den Briefen der Signatur zur Geheimhaltung verpflichtet. „Aber ich habe mich dazu entschieden, die Unterlagen zur wissenschaftlichen Untersuchung an einen erfahrenen Kirchenrechtler zu geben.“

Kirche und Reformen

Reisinger geht es nicht nur um ihren Einzelfall. „Es geht darum, wie die Kirche mit Macht, Machtmissbrauch und mit sexuellem Missbrauch umgeht. Ich habe jetzt die Chance, zu zeigen, wie ineffizient, dilettantisch, parteilich, blind und auf sich selbst konzentriert das kircheneigene Rechtssystem ist und wie wenig man dem trauen kann. Denn was mich wahnsinnig verblüfft, ist, dass nach all den Jahren Landes- und Bundesregierungen so tun, als ob die Kirche immer noch ein guter Ansprechpartner wäre, wenn es um die Missbrauchsaufarbeitung geht und als ob die das schon irgendwie hinkriegt.“

Die Untersuchung durch eine Kirchenrechtler*in, so hofft Doris Reisinger, werde dann entweder zur Konsequenz haben, dass kirchenexterne Institutionen die Notwendigkeit erkennen, von außen eingreifen zu müssen – oder aber die Kirche fängt wirklich mal mit Reformen an. Gerade jetzt im Kontext von Maria 2.0, einer Protestbewegung katholischer Frauen, die vom 11. bis 18. Mai in einem Kirchenstreik getreten sind, ist das vielleicht gar nicht so abwegig. Diese interne Fraueninitiative nimmt gerade erst Fahrt auf, meint Reisinger. Und die Frauen von Maria 2.0 beklagen genau wie sie, dass die Abschaffung der bestehenden Machtstrukturen in der Kirche immer noch nicht in Sicht ist.

Seitdem Reisinger an die Öffentlichkeit gegangen ist, vernetzt sie sich innerhalb der katholischen Kirche mit verschiedenen Amtsträgern und Laien. Dabei lernte sie auch den Jesuitenpater Klaus Mertes kennen. Mertes war von 2000 bis 2011 Schulleiter des Canisius-Kollegs in Berlin. Anfang 2010 schrieb er einen Brief an ehemalige Schüler*innen des Kollegs, die sich ihm gegenüber zuvor als Betroffene von Missbrauch offenbart hatten. In dem Brief bittet er nicht nur um Entschuldigung für die Verbrechen, sondern auch für das Wegschauen anderer. Er schreibt außerdem, dass er von nun an dazu beitragen will, das Schweigen zu brechen. Das Wort hat er gehalten: Der Brief wurde veröffentlicht, danach begann die Welle der Aufdeckung von Missbräuchen an Minderjährigen in der katholischen Kirche.

Aufgeben ist keine Option

Zu dem nun gefällten Urteil in Rom sagt Mertes der taz: „Ich halte das ganze Verfahren, das da in Rom stattgefunden hat, für einen Skandal. Wir haben es nun mit einem weiteren Kapitel zum Thema Vertuschen zu tun, eine weiteres Kapitel zum Thema victim blaming. Mir reicht, was ich von dem Verfahren weiß, um sagen zu können: Die Glaubwürdigkeit von Doris Reisinger steht für mich außer Frage.“

Anders als Reisinger war er optimistisch, dass Täter zur Verantwortung gezogen werden. Was muss dafür passieren? Muss zum Missbrauch an Ordensfrauen eine eigene Studie durchgeführt werden, ähnlich wie die MHG-Studie zum Missbrauch an Minderjährigen?

„Nein“, sagt Mertes. „Wozu extra eine Studie? Da würde doch nur rauskommen, was wir eh schon alle wissen. Man muss an dem Thema weiter dranbleiben.“ Damit meint er, genau wie Reisinger, nicht nur den sexuellen Missbrauch, sondern auch den geistlichen Machtmissbrauch, der sich zum Beispiel bei der Gemeinschaft „Das Werk“ in Leseverboten, Kontrolle der Post, Ausbeutung der Arbeitskraft und der Forderung nach Hörigkeit niedergeschlagen hat.

Aufgeben und aus der Kirche austreten war für Doris Reisinger nie eine Option. „Austreten, das heißt ja eigentlich nur, keine Kirchensteuer mehr zu bezahlen. Dafür gibt es gute Grunde, aber es gibt auch Gründe dagegen. Und gläubig bleibe ich ja trotzdem. Viele Menschen denken, Kirche ist, das was der Papst und die Bischöfe machen und gläubig sein heißt, das zu übernehmen, was die uns vorlegen. Das ist aber nicht so. Glaube ist persönlich oder es ist kein Glaube.“

Selbstbestimmte Spiritualität

Doch mit emotional aufgeladenen, wortreichen Gottesdiensten könne sie heute nichts mehr anfangen. Eigenes Wissen, Zusammenhänge verstehen, hinterfragen zu können und zu dürfen und lieben zu können und die Freude und Faszination daran – das macht ihre Spiritualität heute aus. Eine solche selbstbestimmte Spiritualität ist laut ihrem aktuellen Buch „Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche“ eine Voraussetzung dafür, geistlichen Missbrauch im Vorfeld zu vermeiden.

Lässt sich das auch auf sexuellen Missbrauch übertragen? Für Reisinger ist das klar: Sexuelle Selbstbestimmung trägt dazu bei, sexuellem Missbrauch vorzubeugen. Das hätte zur Folge, dass man den Pflicht-Zölibat abschaffen müsste, weil das nicht nur eine Ursache für sexuellen Missbrauch ist, sondern selbst schon sexueller Missbrauch: „Wenn du einem Menschen sagst: ,Wenn du hier was werden willst, darfst du keinen Sex haben' – jemandem also zu sagen, was er sexuell darf und was nicht: Das IST Missbrauch. Ich glaube außerdem, dass viele Bischöfe gelassener und kritikfähiger wären, wenn sie abends jemanden hätten, der sie mal in den Arm nimmt. Oder der auch mal fragt, warum sie gestern den Müll nicht runter gebracht haben.“

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