Ministerpräsident Haitis ausgetauscht: Bandenkriminalität und Machtkämpfe
Die Bandengewalt in Haiti eskaliert. Derweil verliert sich der Präsidialrat Haitis in verletzten Eitelkeiten und schasst den Ministerpräsidenten.
Im Mai dieses Jahres war Conille zum Ministerpräsidenten ernannt worden. Zuvor hatte die US-Regierung gemeinsam mit Mitgliedern der karibischen Gemeinschaft Cariocom einen Präsidialrat aus der Taufe gehoben, der eine Einigung aller politischen Parteien Haitis auf ein Programm schaffen sollte. Das Programm bestand darin, mit einer internationalen Polizeimission unter Führung Kenias und genehmigt von der UNO die bewaffneten Gangs und Milizen unter Kontrolle zu bringen und Wahlen durchzuführen.
Conille hatte 2011 bereits einen Ministerposten inne. Er ist ein haitianischer Karrierediplomat, der hohe Posten im Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen Unicef bekleidete und fließend Englisch spricht. Die Konflikte, die seiner Entlassung vorausgingen, haben wenig mit der haitianischen Realität zu tun. Es geht um Fragen des Protokolls, in denen sich Mitglieder des Präsidialrates nicht genügend in ihrer Rolle als Quasi-Präsidenten gewürdigt sahen.
Zuletzt protestierte Leslie Voltaire, der derzeitige Präsidialratsvorsitzende, weil Conille oder seine Mitarbeiter ihn von einem Gespräch mit dem brasilianischen Präsidenten Lula ausgeschlossen hatten.
Kein Vertrauen in den Präsidialrat
Der neue, vom Präsidialamt ernannte Ministerpräsident heißt Alix Didier Fils-Aimé, ein lokaler Unternehmer, der eine Wäschereikette betreibt. Sein politisches Profil spiele keine Rolle, so der Direktor des haitianischen Menschenrechtsnetzwerkes RNDDH, Pierre Espérance, gegenüber der taz. All diese Rangeleien um Posten würden von der haitianischen Bevölkerung allein als Machtspiele wahr genommen.
„Sie kämpfen um die Macht, weil sie um sich selbst und um ihre Einkünfte kämpfen“, so Espérance. Er wie viele andere Vertreter der haitianischen Zivilgesellschaft hätten überhaupt kein Vertrauen in auch nur einen Vertreter im Präsidialrat.
Unterdessen spitzt sich die Krise in Haiti immer weiter zu. In den letzten vier Wochen sind 10.000 weitere Personen von den Gangs aus ihren Wohnorten vertrieben worden. Sie gehören zu den 700.000 Binnenvertriebenen bei einer Bevölkerung von circa 11 Millionen, die in Schulen auf Plätzen der Hauptstadtregion ohne Hoffnung auf Rückkehr und Hilfe ausharren.
Vor wenigen Tagen haben Gangs einen Hubschrauber des World-Food-Programms beschossen. Es gab keine Opfer. Doch das Zeichen der bewaffneten Gruppen war klar: Nicht einmal die Nahrungsmittelhilfe, auf die ein großer Teil der Bevölkerung angewiesen ist, kann gefahrlos geliefert werden.
Gangs weiten Macht aus
Die Polizeimission, die seit einigen Monaten mit 400 kenianischen Polizisten im Land ist, hat bislang nichts dazu beigetragen hat, die Situation zu deeskalieren. Im vergangenen Monat weiteten die Gangs ihren Machtbereich aus. 88 Menschen sollen getötet worden seien, ganze Familien sollen in der bäuerlichen Kleinstadt Pont-Sondé in Zentralhaiti ausgelöscht worden seien. Tausende überlebende Bewohner*innen wurden vertrieben. Die Gangs verfolgen dabei unterschiedliche Interessen. Die einen sind im internationalen Drogenhandel aktiv, andere agieren als Milizen der haitianischen Elite, die zum Teil in ebendiesem Präsidialrat vertreten sind.
Die Situation wird zusätzlich von denjenigen verschärft, die angeblich Haitis Situation befrieden wollen. Die Regierung Abinder in der angrenzenden Dominikanischen Republik realisiert mit Verve ihren Plan, 10.000 Haitianer pro Woche nach Haiti abzuschieben. An der Grenze spielen sich katastrophale Szenen ab: Die Menschen werden auf den Straßen und an ihren Arbeitsplätzen festgenommen und an der Grenze ausgesetzt. Dominikanische Menschenrechtsorganisationen sagen, bis Ende des Jahres könnten so rund 130.000 Menschen abgeschoben werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen