Mini-Essays der Buchpreisträgerin 2024: Das Gegenteil von Chaos
Martina Hefter schenkt uns ihre schönsten Buchstaben, Worte und Sätze für den Winter. Kleine Geschichten über das Lebendigsein.
Alltag
E in bisschen mutwillig kann man das Wort Alltag in zwei Wörter teilen, in „All“ und „Tag“. Das macht den Alltag gleich viel größer: Das Weltall glänzt auf den Tag herunter und er ist gar nicht mehr so alltäglich. Worin zeigt sich aber das Alltägliche? Dass man im Alltag einer -> Arbeit nachgeht? Sind die Wochentage gemeint, Montag bis Freitag, weil sich das alltägliche Leben meinem Empfinden nach eher dann abspielt?
Man geht im Alltag zum Einkaufen, zur Schule, ins Büro, in eine Arztpraxis, zum Bürgerservice der Stadt. Alltag ist, wenn man nach der Arbeit noch schnell eine Packung Nudeln im Supermarkt kauft. Aber all das betrifft ja längst nicht alle Menschen. Also ist das Vorhandensein von Alltag in meinem Leben schon so etwas wie ein Privileg.
Ich fühle mich im Alltag ganz wohl. Feiertage, wenn man sie – auch wieder mutwillig – als das Gegenteil vom Alltag hernimmt, finde ich sehr oft bedrückend, mit ihren leeren Straßen, mit der Stille. Wenn man vergessen hat, vorher was einzukaufen, sitzt man zu Hause und isst Nudeln ohne Soße. Nur die, denen es finanziell gut geht, gehen in ein Restaurant. Dagegen erscheint mir der Alltag gerechter. Alltag ist, was eben so da ist.
Buchtipp: „Weltalltage“ von Paula Fürstenberg.
Arbeit
Bis ich zehn Jahre alt war, wuchs ich in einem kleinen Hotel auf, das meine Eltern, meine Großmutter und Tante und Onkel gemeinsam führten. Es gab keinen -> Alltag im Hotel, weil die Leute ja zum Urlaubmachen dorthin kamen. Etwas vom Urlaub der Gäste färbte auf uns ab, die im Hotel lebten. Meine Großmutter saß abends gern mit den Gästen zusammen und sang mit ihnen. Ich durfte lange aufbleiben und meiner Mutter an der Theke helfen.
Ich frage mich oft, wie selbstbestimmt diese Arbeit für meine Familie eigentlich war, wie unabhängig sie alle waren. Als freiberufliche Künstlerin interessieren mich solche Kennzeichnungen von Arbeit: selbständig, angestellt, freiberuflich, verbeamtet.
Mit neunzehn jobbte ich drei Monate bei Bosch in der Fertigungshalle. Früh- und Spätschicht, manchmal Fließband, ich hatte täglich große Angst, den Akkord nicht zu schaffen oder ihn zu behindern. Gerade lese ich das „Fabriktagebuch“ von Simone Weil. Ich glaube, ihre Überlegungen hatten mehr einen (auto-)poetischen, literarischen, als einen pragmatischen, helfenden Wert, obwohl Simone Weil eigentlich genau das wollte. Dennoch, die Arbeitsabläufe, die Weil beschreibt, waren alles andere als alltäglich, sie waren monströs und gefährlich.
Meine Familie verkaufte das Hotel Mitte der siebziger Jahre. Neue Kinder wurden geboren, die Familie wuchs, die Erwachsenen wünschten sich mehr Zeit. Außerdem war der Schnee im Gebirge gerade schon dabei, weniger zu werden. Blieb der Schnee aus, kamen im Winter weniger Touristen.
Mein Vater nahm eine Stelle in der Kreisstadt an, in der Verwaltung einer Firma, die Traktoren baute. Bis zu seiner Rente fuhr er jeden Tag mit dem Auto die zwanzig Kilometer hin und zurück. Ich sah den Wagen morgens aus der Garage rollen und abends wieder hinein. Plötzlich gab es Freizeit und Feierabend. Das Leben verlief geregelter. Ich musste nun immer um zwanzig Uhr ins Bett. Meine Eltern glaubten, sie machten mir damit ein Geschenk (-> Schenken). Aber ich empfand die Regelmäßigkeit als eintönig.
Bucheckern
Die geheimnisvollsten Nüsse meiner Kindheit. Geheimnisvoll, weil in keinem Laden zu finden. Aber für uns Kinder exklusiv immer zu haben, sie lagen zu hunderten in dem kleinen Park gegenüber unseres Hotels auf einer Wiese. Allein schon die Form, wie aus einem Zauberbuch: stachelige Kapseln, darin dreieckige Nüsse. Außerdem hieß es, Bucheckern wären ein bisschen giftig. Wir aßen sie trotzdem, oder gerade deswegen, gleich auf der Wiese. Die Bucheckern waren ein Geschenk, und zwar von mehreren Rotbuchen, die auf der Wiese wuchsen. Damals wussten wir noch nicht, dass Rotbuchen sechzig bis achtzig Jahre alt werden müssen, bevor sie zum ersten Mal Bucheckern tragen. Jetzt, wo ich es weiß, finde ich es umso bedeutungsvoller.
Damals hatten wir Kinder generell ein intensives Verhältnis zu Bäumen. Schrammen in der Rinde versuchten wir mit Schlamm und zermahlenen Blättern zu heilen. Wir kletterten in die Wipfel, die Bäume trugen uns durch den Wind, sie waren gutmütige Riesen. Ich sehe die Rotbuchen von damals als sehr alte, sehr liebe, aber auch leicht verwegene Großmütter an, die uns all die minimal verbotenen Naschereien zusteckten, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt hatten. Die Buchenomas schwiegen natürlich. Sie stehen übrigens immer noch da.
Chaos
Der Ursprung des Wortes Chaos liegt etymologisch im griechischen Verb χαίνειν chaínein, deutsch „klaffen, gähnen“. Chaos bedeutet eigentlich eine gähnende Leere, ein klaffender Raum. Manchmal möchte ich mir selbst das Gegenteil von Chaos schenken – wäre das Ordnung? Zum Beispiel eine zwar nicht leere, aber eben aufgeräumte Wohnung? Da müsste ich jemanden anstellen, und so etwas mache ich aus Prinzip nicht. Ordentlich sein, das ist durch und durch ideologisiert.
Lange Zeit habe ich mich wegen unserer immer unaufgeräumt wirkenden Wohnung geschämt. Wir hatten nie Geld für sinnvolle, gute Möbel. Bei uns gab es immer Schränke, die halb auseinander fielen, und insgesamt viel zu wenig Stauraum, deswegen war (und ist) es immer unordentlich. Wer eine richtig unaufgeräumte, unordentliche Wohnung hat, steht sofort im Verdacht, es irgendwie nicht in die bürgerliche Gesellschaft geschafft zu haben. Man gilt als faul und schlampig. Inzwischen ist mir das egal.
Selbst wenn ich die tollsten Möbel, die größte Wohnung, das ausgeklügeltste Regalsystem hätte: Die Wäsche und das Geschirr, das da hinein müsste, lasse ich meistens tagelang rumliegen und -stehen, weil ich unterwegs auf Lesereise oder bei Proben im Theater bin. Mein Mann kann leider nur sehr begrenzt helfen in seinem Rollstuhl. Derzeit käme ich aber auch gar nicht dazu, mir Möbel zu kaufen.
Manchmal träume ich von Schränken, die sich von selbst einräumen, ähnlich wie ein Staubsaugerroboter. So einen Schrankroboter hätte ich schon gern, aber ich bräuchte dazu einen Roboter, der den Schrankroboter für mich kauft. Da kaufe ich lieber erst mal gar nichts, oder nur gute Schokolade. Ich finde es gut, nicht so viel zu kaufen. Sachen auch mal auseinanderfallen zu lassen und in einem niedlichen Chaos zu leben. Es passiert einem gar nichts. Man wird nicht krank davon. Man braucht manchmal etwas länger, um etwas zu finden, das ist alles.
Druck
Alpdruck, Buchdruck, Händedruck, Erwartungsdruck, Bluthochdruck, Kunstdruck (1. Druck, den die Kunst auf Künstler*innen ausüben kann oder soll, 2. etwas, das man sich an die Wand hängt), Siebdruck, Magendruck, Herzdruck, Kopfdruck, Leistungsdruck. Fußabdruck. Urdruck. Oh, das ist gut! Der Druck, der als erstes da war. Der Druck, generell zu leben. Ausdruck. Ist das ein wichtiger Begriff in der Literatur? Der gute Ausdruck? Ausdruck, der aus dem Drucker kommt. Blaudruck. Atemdruck. Aluminodruck, keine Ahnung, was das ist. Abgasgegendruck, auch keine Ahnung, aber eine ungefähre Vorstellung. Augeninnendruck. Sollte ich mal wieder messen lassen.
Eigentlich
sollte unter E der Begriff „Essay“ stehen. Eigentlich wollte ich sechsundzwanzig Miniatur-Essays schreiben, zu jedem Buchstaben des Alphabets einen (-> Mathematik). Eigentlich aber lässt sich ein Essay nicht immer so knapp halten, dass er nicht jene Zeichen frisst, die ja noch für die restlichen Essays gebraucht werden. Eigentlich sollte es zu jedem Buchstaben nur einen Essay geben. Eigentlich sind feste Strukturen nur dann gut, wenn man weiß, dass man sie in begründeten Fällen auch durchbrechen kann. Eigentlich ist es gar nicht so schlimm, dass es nur neunzehn Buchstaben geworden sind und unter drei Buchstaben mehrere Begriffe stehen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Engelsdrachenfisch
-> Eigentlich wollte ich unter E auch den Begriff „Engel“ nehmen und gab das Wort zur Recherche in die Suchmaschinenleiste. Es ploppte als zweites „Engelsdrachenfisch“ auf, und ich war neugierig. Ich erinnerte mich an den ersten Roman meines Lebens: „Der Drachenfisch“ von Pearl S. Buck, ein Kinderbuch, die Geschichte zweier Freundinnen im vorkommunistischen China der 1930er Jahre. Ein Geschenk meines Vaters, ich hatte gerade erst lesen gelernt. Ich kann mich nur vage an die Handlung erinnern, aber umso genauer an die Faszination des fremdartigen historischen und kulturellen Raums im Roman. Ich las ihn immer wieder.
Und jetzt also der Engelsdrachenfisch, der rein gar nichts mit dem Drachenfisch von Pearl S. Buck zu tun hat. Das Wort steht auf einer Seite, die zu einem Geflecht aus Seiten gehört – ein Server für das Online-Rollenspiel „World of Warcraft“. Keine Ahnung, was ein Server für ein Online-Rollenspiel und was ein Online-Rollenspiel ist.
Jetzt, nachdem ich etwas herumgesurft bin, habe ich den Hauch einer Vorstellung. Eine fremde Welt für mich, allerdings eine – und das unterscheidet diese Welt von der Welt des Romans „Der Drachenfisch“ –, in die ich nicht unbedingt will. Dieses Rollenspiel wirkt auf mich von Ideologien der Kraft und Macht getragen, es ist von „Rassen“ die Rede, es geht ums Mächtigsein und ums Siegen und darum, andere zu schwächen und auszulöschen. Aber ich gebe auch zu, dass ich zu wenig Ahnung habe, um mir wirklich ein Urteil zu erlauben.
Was ich mit diesem Eintrag hier unter „E“ sagen will? So genau weiß ich auch das nicht. Vielleicht, dass ich altmodisch undigital bin, aber als Performerin, die mit dem Körper, dem echten Körper arbeitet (-> Arbeit), kann ich gar nicht anders und finde das auch okay.
Fluss
Von allen Gewässern mag ich Flüsse am liebsten. Sie sind unermüdlich und beständig zugleich. Sie können gewaltig und still sein, laut und tosend. Ihre kleinen Verwandten, die Bäche, mag ich auch. Etwas übertrieben ausgedrückt, kommen mir Flüsse ein bisschen wie Menschen vor. Ein Fluss, besser gesagt, sein Wasser, überwindet eine Strecke. Das hat etwas vom Lebensweg eines Menschen. Alter und Dauer, das sind Stichworte. Aber Schluss mit der Romantik.
Flüsse sind höchst gefährdete Ökosysteme, immer noch leitet die Industrie weltweit Rest- und Nebenstoffe einfach in sie ein. Und das Plastik landet auch dort (-> Müll). Im Jangtse in China schwimmen jährlich 333.000 Tonnen. In Deutschland gibt es „Wasserstraßen“ und „Nebenwasserstraßen“, also die großen und mittelgroßen schiffbaren Flüsse. Der Rhein ist so was wie eine Autobahn für Schiffe. Das „Bundesprogramm Blaues Band“ zur Renaturierung der Nebenwasserstraßen und zumindest teilweise auch der Hauptwasserstraßen, 2017 aufgelegt, wird derzeit finanziell nicht ausreichend ausgestattet.
Die Vils, der kleine Fluss, der durch meinen Geburtsort fließt, hat eine türkisfarbene Tiefe und einen kleinen Kiesstrand an einer Stelle weiter hinten im Tal. Dort spielten wir als Kinder, schwammen manchmal auch heimlich. In den fünfziger Jahren bekam die Vils in der Ortsmitte ein schnurgerades, langweiliges Bett verpasst, das zum Glück vor einigen Jahren in südöstlicher Richtung renaturiert wurde.
Hotel
Hotels begleiten mein Leben, ein pathetischer, aber doch wahrer Satz. Ich wuchs in einem kleinen Hotel auf und jobbte später in Hotels (-> Arbeit), lange Zeit in einem Ferienhotel in meinem Geburtsort, wo ich morgens um sieben das Frühstücksbuffet vorbereitete, später machte ich die Zimmer sauber. Ich machte diese Arbeit gern – auch wenn sie körperlich anstrengend war. Ich mochte es, frühmorgens als Erste im Hotel zu sein. Ich mochte es, auf den Zimmern alleine und weitgehend selbstbestimmt arbeiten zu können. Die Zimmer sollten bis 15 Uhr fertig sein, das war locker zu schaffen, und wenn ich früher fertig war, konnte ich die restliche Zeit ein bisschen verbummeln.
Die Ferienhotels in unserem Ort waren Familienbetriebe, mal mehr, mal weniger groß. Beschäftigungsverhältnisse waren weniger entpersönlicht, als ich sie jetzt wahrnehme, wo ich sehr oft in größeren Hotels übernachte. Damals waren die Arbeitsbedingungen zwar auch nicht ideal, aber Reinigungsarbeit im Gastgewerbe war nicht an Zeitarbeitsfirmen oder in Form von Subunternehmer*innenschaft ausgelagert, wie es jetzt zumindest in den großen städtischen Hotels der Fall ist.
Gerade lebe ich gut ein Drittel des Monats im Hotel – was sich luxuriös anhört. Ich muss nichts saubermachen und setze mich morgens an einen gedeckten Frühstückstisch. Ich versuche, so wenig Unordnung wie möglich in einem Hotelzimmer zu hinterlassen, weil ich weiß, wie mühsam die Arbeit des Zimmerservice ist. Manchmal ziehe ich sogar das Bettzeug ab. Wenn ich länger als einen Tag bleibe, bestelle ich den Zimmerservice ab und mache selbst sauber und hole mir alle drei Tage neue Handtücher.
Zimmerservice ist ein prekärer Beruf: Der Frauenanteil ist hoch, ebenso der von migrantischen Arbeitnehmer*innen. Oft sind es Beschäftigungsverhältnisse auf Zeit und nach Bedarf. Und man wird kaum gesehen bei der Arbeit, das fiel mir schon damals auf. Die kleine Grenzüberschreitung, die der Zimmerservice auch ist – man dringt in eine temporäre Privatsphäre ein –, wollen Gäste möglichst nicht wahrnehmen, ebenso nicht, dass jemand ihre Unordnung wegräumt, der*die oft augenscheinlich weniger privilegiert ist.
Das ist ein Verhältnis so ähnlich wie das, was wir zu Mitarbeiter*innen der Müllabfuhr haben (-> Müll). Man schaut lieber nicht hin und ist froh, wenn die Leute einfach ihre Arbeit tun. Bitte hinterlassen Sie Trinkgeld im Zimmer, wenn Sie in einem Hotel übernachten.
Juno
Die Raumsonde Juno soll unter anderem herausfinden, ob Jupiter einen festen Kern besitzt. Sie wurde am 5. August 2011 gestartet und benötigte fünf Jahre, um ihre Umlaufbahn zu erreichen. Mich machen solche zeitlichen Dimensionen immer leicht melancholisch. In fünf Jahren, da passiert so viel unten auf der Erde. Auch bei den Menschen, die an der Raumsonde Juno in welcher Weise auch immer beteiligt sind: Einige könnten innerhalb dieser fünf Jahre vielleicht das Rentenalter erreicht haben und waren im Weiteren nicht mehr dabei. Und überhaupt, die fünf Jahre sind ja erst der Anfang.
Noch verrückter sind die Voyager-Sonden, die seit 1977 das äußere Planetensystem durchqueren. Das sind bald fünfzig Jahre, und der Stand der Forschung in Raumfahrt und Astrophysik ist jetzt schon wieder ganz anders. Oder auch: Die Leute, die den Kölner Dom (-> Köln) im 12. Jahrhundert zu bauen begannen, mussten sich darüber im Klaren sein, dass sie ihn nie im fertigen Zustand sehen würden. Juno jedenfalls kreist und kreist, und auch ich muss mich mit dem Gedanken anfreunden, dass ich vielleicht, oder sehr wahrscheinlich, nicht mehr alles miterleben werde, was sie noch an Informationen senden wird.
Köln
Weil ich gestern in Köln war, gibt es jetzt einen Abschnitt über Köln. Immer wenn ich in Köln bin, denke ich besonders viel über Köln nach, mehr als ich zum Beispiel über Berlin nachdenke, wenn ich in Berlin bin. Köln ist viel kleiner als Berlin, aber viel, viel voller. Überall ist es geradezu vollgestopft, und jetzt, in der Vorweihnachtszeit mit den Weihnachtsmärkten, nochmal mehr. Von den Regionalzügen nach Düsseldorf, wo ich heute bin, rede ich gar nicht erst.
Trotz der Vollgestopftheit empfinde ich Köln immer als entspannt. Irgendwie läuft alles reibungslos, niemand mault, niemand fährt einem am Hauptbahnhof den Rollkoffer in die Hacken. Fast überall sind die Leute fröhlich. Überall empfängt man mich heiter und freundlich. In Leipzig würde sich solche Vollgestopftheit stressiger anfühlen, da bin ich mir sicher.
Leipzig ist immer noch eine relativ leere Stadt, wir sind an den vielen Platz gewöhnt, und hätten wir Verhältnisse wie in Köln, würde uns das anstrengen und schlechte Laune bereiten. Ist das die sprichwörtliche rheinische Heiterkeit? Ich glaube ja nicht an solch regionale Zuschreibungen von Charaktereigenschaften. Köln war im Hochmittelalter die größte Stadt des deutschsprachigen Raums, mit immerhin 40.000 Einwohner*innen. Vielleicht kommt es davon. Vielleicht kennt man es in Köln nicht anders.
Konflikt
Es gibt ja Kriegsschauplätze, die es zumindest in Deutschland nicht richtig ins öffentliche Bewusstsein schaffen oder auch international keine Aufmerksamkeit erregen. Ich frage mich zwar, ob solche Vergleiche statthaft, ob es naive Gedanken sind. Was sich zum Beispiel im Osten der Demokratischen Republik Kongoim Osten der Demokratischen Republik Kongo abspielt – es wird nicht Krieg, sondern Konflikt genannt –, davon habe ich zuerst über einen Freund erfahren. Niemand sagt was auf Facebook dazu. Ich finde selten etwas in der öffentlichen Berichterstattung. Oder bekomme ich es nur nicht mit?
Der Ostkongo ist reich an Coltan, das in allen unseren Handys und Computern ist. Um dieses Coltan geht es in diesem Konflikt unter anderem natürlich, auch wenn die Hintergründe verzwickt und (für mich) unentwirrbar erscheinen, und – ebenso natürlich – die Ursachen bis in die Kolonialzeit reichen. Wie bei anderen Kriegen bemühe ich mich, alles zu durchdringen – und schaffe es doch nie.
„Sowohl Teile der kongolesischen Armee als auch die lokalen, nicht-staatlichen Streitkräfte und Rebell:innengruppen begehen Gräueltaten an der Zivilbevölkerung (Vergewaltigungen, Vertreibungen, Tötungen, Zwangsrekrutierung von Kindern). Alle Kriegsparteien beteiligen sich an Ausplünderungen der Regionen mit wertvollen Rohstoffen.“ So steht es zum Beispiel auf der Seite friedensbildung-bw.de. Dort gibt es eine Liste mit allen aktuellen Kriegs- und Konfliktschauplätzen der Erde, mit Informationen zu den Hintergründen. Es ist eine sehr lange Liste.
Mathematik
hätte ich in der Schule gemocht, wenn ich die Zeit dazu gehabt hätte. Mir erschienen andere Dinge wichtiger, weil ich ahnte, dass ich sie mehr benötigen würde – abgesehen von den Grundrechenarten und einigen anderen Basics. Mathematik erscheint immer so gegeben, eine Struktur von außen, die über allem liegt, was überhaupt existiert. Aber eigentlich entspringt ja auch die Mathematik komplett menschlicher Vorstellung, sie ist also etwas Erfundenes (-> Roman). Das habe ich in der Schule mal einem Mathelehrer erklärt, und er sagte, ich hätte recht.
Über die Schönheit der Mathematik sagt das Langgedicht „alfabet“ von Inger Christensen einiges. Überhaupt ist ihr dichterisches Werk für mich der Inbegriff eines Versuchs der Ordnung, der die Mathematik ist. Die Strophenlängen des berühmten Langgedichts sind durch die Fibonacci-Folge bedingt. Die Fibonacci-Folge beginnt mit Null und zweimal der Zahl Eins, jede weitere Zahl ist die Summe der beiden vorangehenden Zahlen. Es heißt, dass diese Folge so ähnlich auch in Wachstumsvorgängen in der Natur vorkommt.
Für alle, die das Gedicht nicht kennen: In „alfabet“ werden Begriffe und Namen so gut wie „nur“ aufgerufen, Pflanzen, Tiere, aber auch chemische Elemente, mit dem Zusatz „gibt es“: „die aprikosenbäume gibt es“ lautet der erste Vers, wie eine Selbstversicherung des sprechenden/schreibenden Ichs, die immer größer und ausufernder wird. „alfabet“ ist das Gegenteil von -> Chaos. Das Gegenteil von Textwüsten vielleicht.
Monika
Monika ist ein weiblicher Vorname und bedeutet „die Einsiedlerin“. Monika Hefter ist seit dem Buchpreis so was wie meine Doppelgängerin. Ganz im Sinne des Namens eine, die man nie zu Gesicht bekommt. Ich wurde schon früher da und dort Monika Hefter genannt. Vielleicht wegen der Autorin Monika Helfer, die Namen sind ja so ähnlich. Alles andere ist aber eigentlich nicht zu verwechseln.
Nachdem ich den Deutschen Buchpreis gewonnen hatte, begann Monika Hefter ihr eigenes Leben. Plötzlich war die Moni überall, diese geheimnisvolle Monika, die trotzdem niemand so richtig kannte. Es heißt, sie soll auf der Buchmessenparty im Frankfurter Literaturhaus eine ganze Stunde lang durchgetanzt haben – es kann also nicht ich, Martina, gewesen sein, denn ich tanze immer mindestens zwei Stunden.
Ach, ich möchte diese Monika endlich kennenlernen. Ist sie wie ich? Ist sie anders? So klug und witzig wie Monika Rinck oder so süß und quirlig wie meine Tante Monika? Allein schon wegen dieser beiden Personen war ich anfangs nie böse oder beleidigt, wenn ich wieder mal Monika sein sollte. Verrückterweise war ich sowieso meistens zugleich Martina. In den Ankündigungen, in den Zwischenüberschriften und Kurzmeldungen hieß ich Monika, in den dazugehörigen Texten Martina.
Vielleicht hatten sie in den Redaktionen meinen Hang zum Spiel mit der Identität erkannt und wollten eben nett sein. Das ist eigentlich süß. Die Kurztexte und Zwischenüberschriften werden oft von Praktikant*innen verfasst, sagte mir jemand. Das zwingt einen auch zur Demut, was ja nicht verkehrt ist: Denn so berühmt bin ich nicht, dass man als Praktikant*in weiß, wie ich heiße und wer ich bin.
Andererseits hat es mich manchmal ins Nachdenken gebracht: Wenn die Leute in den Redaktionen so flüchtig auf alles schauen, kann man daraus ableiten, dass auch andere Menschen so flüchtig sind? Dass sie nur mal kurz hinschauen, keinen zweiten Blick auf etwas werfen? Was ich bei Chirurg*innen oder Pilot*innen nicht so toll fände, ehrlich gesagt.
Noch habe ich Monika nicht getroffen. Ich bin gespannt, wie es werden wird, wenn wir uns das erste Mal gegenüberstehen. An alle, die Kurztexte über mich verfassen: Ich wäre auch gern mal Fritzi, Lilo, Zisan, Io, Lu, Xi, oder Mio.
Müll
Das Wort Müll leitet sich vom mittelhochdeutschen „mulle, mul, mül“ ab, es bedeutete Staub. Im Niederdeutschen meint „Mull„oder „Müll“: lockere Erde. Bis ins frühe Mittelalter gab es Müll nur in Form von Speiseresten, Exkrementen und Asche. Es gab so gesehen keinen Müll. Jetzt gibt es viel Müll. Müll ist eine Schatten- oder Parallelproduktion zu dem, was eigentlich produziert wird. Ein produziertes Sofa hat einen stinkenden Zwilling aus Müll.
Ich sah mal einen Bericht im Fernsehen über eine junge Frau, die keinen Plastikmüll hinterlassen wollte. Sie kaufte nur in Unverpackt-Läden, nähte Vorratsbeutel aus Stoff, pflanzte Nahrungsmittel selbst an und vieles mehr. Aber es blieb in diesem Leben keine Zeit für etwas anderes, die Frau lebte nur dafür, keinen Plastikmüll zu hinterlassen. Das muss man sich auch leisten können.
So ehrenwert ich das Ganze finde, ist es doch zu kurz gedacht, denn wir selbst als Individuen sind meistens ja nicht die Produzierenden von Plastikmüll, sondern die Konsumierenden. Es müsste aber die Produktion von Plastik(-müll) vermieden werden. In Leipzig sah ich im letzten Jahr eine sehr interessante Ausstellung in der Galerie für zeitgenössische Kunst: Things That Were Are Things Again, eine komplett klimaneutrale Ausstellung über Nachhaltigkeit, Materialkreisläufe, Wiederverwertung – auch in der Kunst selbst.
Was fällt mir noch zu Müll ein? Dass ich schon mehrmals einfach alles, was in meiner Wohnung rumstand und -lag, in eine Mülltüte gepackt und die Normalmülltonne geworfen habe.
Playlist
Kiss from a Rose – Seal
Hard Drive Gold – alt-J
Pink + White – Frank Ocean
Du liebst mich nicht – Sabrina Setlur
Creep – TLC
Who Loves the Sun – Nu & Jo Ke
We Na Go Run – Rockers Hi-Fi
Falke überm Haus – Timm Völker feat. Patrice Lipeb
Hallo Hölle – 206
Feuer – Johnny Katharsis & HeMightBe
Breathing – Kate Bush
Rubberband Girl – Kate Bush
Constellations – Frankie Stew and Harvey Gunn
I Owe You Nothing – Seinabo Sey
Kong – Neneh Cherry
My Dreams – The Gun Club
Only Happy When It Rains – Garbage
Motorcycle Emptiness – Manic Street Preachers
A Place Called Home – PJ Harvey
The Last Beat Of My Heart – Siouxsie and the Banshees (live)
Youth of America – The Wipers
Roman
„Beim Lesen eines Romans, jedes Romans, müssen wir uns bewusst sein, dass es sich um Unsinn handelt, und während der Lektüre dann jedes Wort glauben“, schreibt Ursula K. Le Guin im Vorwort ihres Science-Fiction-Romans „Die linke Hand der Dunkelheit“. Science Fiction ist das Gegenteil von Autofiktion, könnte man vielleicht sagen. Obwohl Ursula K. Le Guin ja von „jedem Roman“ spricht, hat die Autofiktion den Ruf, dass sie keine richtigen Romane hervorbringt und dann so gesehen kein Unsinn, oder eher niederer Unsinn ist, nicht durch die Fiktion geadelt.
Alles, was in einem autofiktionalen Roman steht, wäre einfach nur von der Realität abgeschrieben, so scheinen einige Leute zu denken. Ich sehe meinen Roman „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ nicht als Autofiktion an. Er ist natürlich erfunden. Mit dem ersten Satz begann die Erfindung.
Wenn man in den jeweiligen Sprachen die Gesamtheit der Wörter und ihrer Kombinationen hernähme, also wirklich die absolute Gesamtheit, steckte in dieser Gesamtheit auch jeder Roman. Jeder Roman, der bereits geschrieben wurde, und jeder, der noch geschrieben werden wird. Eine KI könnte das theoretisch machen – alle möglichen Romane der Menschheit schreiben, die es gab, gibt und geben wird, darunter wäre auch „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“. Es müsste nicht mal eine KI sein, denn es geht ja nur ums Anordnen und Zusammensetzen, also reicht ein normales Computerprogramm. Wenn man es so betrachtet, ist es völlig unerheblich, ob ein Roman Science- oder Autofiction ist.
Schenken/Stehlen
Ich bin schlecht im Schenken. Ich weiß nie, was ich schenken soll. Und etwas schenken, damit eben etwas geschenkt ist, finde ich schwierig. Neulich sah ich in einer Buchhandlung ein Kochbuch mit Rezepten nur für Bananenbrote, die unterschiedlichsten Arten, mit tollen Fotos. Dieses Kochbuch hätte ich mir beinahe selbst geschenkt. Aber ich wusste auch: Für das Backen würde ich mir Zeit stehlen müssen.
Schenken und stehlen, das passt nicht zusammen, ich ließ das Kochbuch dann liegen, aber freute mich, dass es existierte. Ich habe es später einer Bekannten empfohlen, die auf Instagram nach wirklich besonderen Kochbüchern suchte. Erstaunlich viele Metaphern haben mit „Schenken“, „Verleihen“, aber auch mit „Stehlen“ zu tun. Jemandem sein*ihr Herz schenken, etwas oder jemandem Gehör verleihen, jemandem Zeit schenken oder stehlen. Sich aus einem Gespräch stehlen.
Zett
Zwei Dutzend zweifelhafte Zaubersprüche mit ziemlich viel Zetts zusammensuchen. In zu wenig Zeit. Zeid ihr bereit? Zuerst zielen wir darauf, die Zerstreutheit und Zappeligkeit zu zähmen. Das Ziel ist Zärtlichkeit und Zugewandtheit. Zuckersüß sein wie Zabaione. Jetzt nicht zurückrudern! Zusammen zerlegen wir jeden Zerberus. Zusammen sind wir zart wie Zebras, die in ihrer Zeitzone zusammenstehen. Lasst uns nicht zanken über dieses zermürbende Zett. Es ziert die Züge, die Zonen, die Zäune, die Zauberkünste und die Zukunft. Auch die taz ziert zuletzt ein Zett.
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